Das Hörbuch: Am Berg.
Bergretter über ihre dramatischsten Stunden.
Gesprochen von Günter Schoßböck
Länge: 218 Minuten
UVP 19,99 €
Einen Auszug aus dem Buch lest ihr hier:
Es ist Frühsommer. Für einen ambitionierten Bergwanderer soll es mit Steigeisen über das Höllental bei Garmisch-Partenkirchen zum Höllentalferner gehen. Als der Münchner auf einem Schneefeld einen falschen Schritt macht, geht es für ihn von einem Moment auf den anderen um Leben oder Tod.
Zugspitze. Der Mann aus dem Eis.
Nach einem Gespräch mit Anton Vogg Senior und Anton Vogg Junior
Ein paar Tage nach Sonnwend herrscht in diesem durchwachsenen Frühsommer endlich ein wenig Sonnenschein. In München freut sich der 37-jährige Hermann H. (Name vom Autor geändert) seit Tagen auf den Höllentalferner. Er ist leidenschaftlicher Bergsteiger. Den Kollegen im Büro schwärmt er von der geplanten Tour im Hochsommer in den Westalpen vor. Und dass er sich dafür ein paar neue Steigeisen gekauft hat, die er vielleicht am Wochenende ausprobieren will. An diesem Sonntagvormittag packt er seinen Rucksack, es soll ja keine große Tour werden. Nicht ganz rauf bis zur Zugspitze. Nur den Weg bis zum Gletscher. Nur mal dort probieren, ob er die richtigen Eisen gekauft hat.
Viel braucht er nicht, am Abend will er ja wieder zurück sein. Einen Anorak. Ein paar Müsliriegel. Etwas Wasser. Eispickel, Eisbeil oder Seil braucht er nicht. Hermann H. freut sich. Auf den Ausflug nach Grainau. Auf den Berg. Auf den Gletscher.
Sonntag, 24. Juni. Höllentalferner.
Auf dem Höllentalferner ist das Wetter herrlich. Klare Sicht bis ins Tal, fast wolkenlos. Es hat die letzten Tag geschneit oben. Das Geröll, das im Sommer sonst offen auf dem Gletscher zwischen den Spalten liegt, ist leicht überzuckert vom Neuschnee der letzten Tage. Der Schnee des langen Winters hat sich auf der sonnenabgewandten Seite der Zugspitze auf der einen Kilometer langen Eiszunge des Höllentalferner ein letztes Refugium geschaffen. Hermann H. schnallt sich die Steigeisen an, als er den Gletscher auf 2570 Meter erreicht. Er ist allein hier draußen, seit längerer Zeit hat er keinen Bergsteiger mehr gesehen. Kein Laut dringt durch die magische Stille.
Zaghaft macht er seine ersten Schritte auf dem Eis. Er wandert ein Stück den Gletscher nach oben, der steil ansteigt.
Er folgt dem Pfad weiter nach oben, sein Schritt ist sicher. Mutig geworden, verlässt er den Weg nach oben, wo unberührt ein Schneefeld liegt. Es ist weit am Nachmittag. Ein paar Meter steigt er auf, schaut vielleicht kurz nach oben. Als er den nächsten Schritt macht, trifft sein Eisen unter dem Schnee auf – nichts mehr... Er tritt ins Leere. Sein schwerer Schuh mit dem Steigeisen bricht durch die zarte Schneedecke. Er verliert das Gleichgewicht und rutscht durch den scheinbar festen Boden wie durch hauchdünnes Eis nach unten. Er fällt, haltlos zwischen zwei enger werdenden Eiswänden, soviel sieht er vielleicht noch.
Eine Ewigkeit dauert sein Fall, so kommt es ihm wohl vor, dann schlägt er unten überraschend weich auf einem Schneehaufen auf. Bis auf ein paar Kratzer ist er unverletzt. Der Rücken tut ihm etwas weh, doch nichts ist gebrochen. Er ist auf einem etwa zwei Meter breiten Balkon zwischen den Wänden aufgeschlagen. Links und rechts daneben fällt die Spalte jäh weiter nach unten ab. Vor sich und hinter sich hat er Wände aus blankem Eis, fast kann er sich mit den Armen nach links und rechts abstützen. Vor ihm und in seinem Rücken läuft die Spalte weiter. Über sich, in knapp zehn Metern Höhe, befindet sich eine geschlossene Schneedecke. Durch das kleine Loch, das er beim Sturz durch die Schneedecke gerissen hat, sieht er ein Stück des strahlend blauen Himmels über ihm leuchten, als wäre nichts geschehen. Doch plötzlich fühlt er: Der blaue Himmel ist unerreichbar weit weg. Noch weiter weg, als er für ihn jemals war.
Montag, 25. Juni, München.
Am späten Vormittag wundern sich die Kollegen, warum Hermann H. nicht zur Arbeit erschienen ist. Als ihr Kollege acht Stunden späten immer noch nicht erreichbar ist, verständigen sie am Nachmittag die Polizei.
Montag, 25. Juni. Grainau.
Für Toni Vogg Senior war es kein ruhiger Sonntag gewesen in der Bergwachtstation Grainau. In der Abenddämmerung kommt ein Alarm, zwei Männer müssen sie wegen Erschöpfung vom Jubiläumsgrat abbergen, zwei Stunden ist der Helikopter aus Landsberg im Einsatz. Für Toni Vogg nichts Neues. Er ist 48, er hat eine Firma für Elektroinstallation in Grainau, es ist sein freies Wochenende, das wieder einmal für die ehrenamtliche Arbeit in der Bergwacht draufgeht. Aber Toni Vogg weiß, warum er in der Bergwacht ist. Er war 16, als ihm beim Klettern oben an der Riffelscharte ein Griff ausbrach und er 40 Meter in die Tiefe stürzte.
Das war 1975. Handys waren noch nicht erfunden und die Luftrettung per Helikopter gerade erst im Aufbau. Sein Freund musste ihn liegen lassen, musste eilends absteigen und Hilfe holen. Es dauerte Stunden, bis die Retter aus dem Tal zum Schwerletzten aufgestiegen waren, und ihn als schmerzendes Bündel Meter für Meter hinunter ins Tal trugen. Drei Wochen lag er im Koma. Als er nach vier Monaten auf eigenen Beinen das Krankenhaus verlassen konnte, beschloss er, sich in seiner Heimatgemeinde Grainau der Bergwacht anzuschließen. Aus Dankbarkeit, dass Menschen ihr Leben aufs Spiel gesetzt hatten, bloß um seines zu retten.
Auch seine beiden Söhne Christoph und Toni sind bei der Bergwacht Grainau. Der Toni ist in diesem Juni 2007 gerade 17 Jahre alt und trotzdem voll dabei. "Vogg I" und "II" nennt man die beiden Tonis bei der Bergwacht lapidar, um Vater und Sohn auseinanderzuhalten, wenn sie wie so oft gemeinsam auf einen Einsatz gehen.
Es ist 17:30 Uhr, als an diesem Montag im Juni der Alarm reinkommt. "Vermisste Person am Höllentalferner", lautet die Nachricht auf den Funkmeldeempfängern bei vier Bergwachtmännern in Grainau. Und bei Vater und Sohn Vogg. Eine Viertelstunde später machen sich die sechs auf den Weg zur Seilbahn und fahren hinauf zum Gipfel der Zugspitze. Vom schönen Wetter des Sonntagnachmittags ist so gar nichts geblieben, als sie den Berg hinaufschauen. Es herrscht dichter Nebel. Wolken jagen Schauer körnigen Eises um die Gondel der Seilbahn. Die Bergwachtmänner davon aus, dass der Vermisste am Höllentalferner in eine Spalte gestürzt ist.
Eile ist geboten. Das Unglück liegt 24 Stunden zurück. In zwei Stunden wird es dunkel. Wetter und Sicht sind miserabel. So miserabel, dass der SAR-Hubschrauber, der die Nordostseite der Zugspitze absuchen soll, nach einer halben Stunde die Suche abbricht. Kurz nach 19:00 Uhr erreichen die Männer den oberen Rand des Gletschers. Regen. Graupel. Sicht um die drei Meter.
Alle paar Augenblicke bleiben sie stehen. Lauschen angestrengt in die Stille. Aber nichts regt sich. Bis in die anbrechende Nacht suchen die sechs Männer den Gletscher ab. Als Blitze in der Dämmerung den Gipfel über ihnen grell erleuchten und der Regen in Schnee übergeht, beschließen die sechs, ihre Suche zu unterbrechen. Sie ahnen zu diesem Zeitpunkt nicht, dass sie keine 30 Meter an Hermann H. vorbeigewandert sind.
Montagabend. Höllentalferner. Die Nacht im Eis.
Hermann H. ruft um Hilfe, so laut er kann. Doch der Schnee über ihm dämpft jeden seiner Schreie, so als hätte er in ein Kissen gerufen. Dumpfe Stille von oben. Dumpfe Stille zwischen den kalten Wänden.
Er greift zum Handy. Aber das Display zeigt ihm nur ein lakonisches "Kein Netz". Ein Foto von dem Loch über sich macht er noch, das wird ihm eh niemand glauben. Die Enge. Das kleine Loch, durch das er gefallen ist wie in ein anderes Leben, mit dem tiefen Blau am Sonntagnachmittag oben drüber. Auch wenn ihm Eisbeil und Pickel fehlen: Vielleicht kann er sich ja zwischen den sachte tropfenden Wänden so abstemmen, dass er irgendwie nach oben kommt. Er versucht es. Ein Mal. Drei Mal. Sieben Mal. Am Anfang geht es leicht, jedes Mal schafft er es ein kleines Stück nach oben. Aber da, wo sich über ihm die senkrechte Eiswand leicht ausbeult, verliert er den dürftigen Halt und kippt langsam nach hinten.
Den Versuch, die glatten Wände zu erklimmen, gibt er nach einer halben Stunde auf. Lieber die Kräfte schonen. Wenn er sich jetzt verausgabt, wird er schneller ermüden. Er weiß: Sein Feind ist der Schlaf. Wenn er in der Nacht zwischen den Eiswänden einschliefe, dann wäre das sein sicheres Ende. Im Schlaf würde sein Körper, ohne dass er es bemerkte, kälter und kälter werden. Die Unterkühlung seines Körpers würde ihr Werk tun. Er würde nichts merken. Er würde einfach nur schlafen.
Noch bevor die Dunkelheit hereinbricht, hat er den Inhalt seines Rucksacks inspiziert. Viel ist es nicht. Eine Handvoll Müsliriegel. Nur noch wenig zu trinken im Gefäß. Ein Pullover. Eine Mütze. Viel mehr ist es nicht. Er hat seinen Rucksack auf dem Schneehaufen ausgebreitet und sich daraus einen Sitz gebaut, soweit das in seiner Eiskammer möglich ist.
Er verbietet sich das Einschlafen. Immer wieder steht er auf. Tritt auf der Stelle. Schlägt mit den Armen um sich. Stampft in seinem zwei Meter langen Verließ auf der Stelle, um sich zu wärmen. Und wieder steht er auf. Gegen Morgen nickt er ein erstes Mal kurz ein. Auf die Zunge beißen, darauf herumkauen, bis es schmerzt ... Alle Tricks, die er kennt von langen nächtlichen Autofahrten.
Doch nichts hilft gegen den Schlaf. Er gibt ihm einfach nach. Nach zehn Minuten schreckt er mit einem Schrei hoch, es ist, als hätte er sich selber geweckt. Er hatte geträumt, doch um ihn war nur die Stille. Und die eisigen Wände. Voller Panik streckt er seine kalt gewordenen Glieder, er zwingt sich – zum wievielten Mal? – auf der Stelle zu treten, in der Dunkelheit Rumpfbeugen, Gymnastik zu machen, um Blut in seine Glieder zu bekommen.
Quälend langsam kommt der Morgen oder das, was Hermann H. durch das schmale Loch wahrnimmt. Der blaue Himmel weicht über den Tag einem Grau, das am Nachmittag in Finsternis übergeht. Das Loch ist nur noch ein grauer Schemen, durch das der Wind vereinzelte Regentropfen treibt. Davon merkt er freilich nichts, nur dass Tropfen die Eiswände herunterrinnen. Lange muss er die Hand aufhalten, sehr lange, bis sich wenige Tropfen Gletscherwasser in seiner Hand sammeln, die er gierig aufleckt. Er sieht nichts. Er hört nichts.
Er bereitet sich darauf vor, die zweite Nacht in der Spalte zu verbringen, eine zweite Nacht seinen Kampf aufzunehmen gegen das Einschlafen und die Kälte. Noch hat er Kraft. Er hört die Retter nicht, die am Abend nur etwa 30 Meter entfernt durch den Nebel an seinem Loch vorbeiziehen. Der Nebel und die Schneedecke über ihm schlucken jedes Geräusch.
Dienstag, 26. Juni, 7:00 Uhr. Grainau
Am Morgen des zweiten Tages hat sich das Wetter weiter verschlechtert. Die Wolken hängen tief, vom Gipfel ist nichts zu sehen, es regnet in einem fort seit der Nacht und in den Tag hinein. In der Einsatzzentrale der Bergwacht am Fuß des Berges treffen sich die Grainauer Bergwacht-Leute, um ihr weiteres Vorgehen zu besprechen. Bei dem Wetter macht eine Rettungsaktion wenig Sinn. Natürlich könnten sie hinauffahren, ein zweites Mal vom Gipfel der Zugspitze zum Gletscher hinuntersteigen. Ein zweites Mal würden sie bei der geringen Sicht nicht das Geringste entdecken, wie blind durch den Nebel stolpern.
Am späten Vormittag lässt der Regen nach, starker Wind jagt die Wolkendecke auseinander. Die Polizei startet mit ihrem Helikopter eine Rettungsaktion und fliegt trotz heftiger Böen hinauf. Als sich nach vier Stunden das Wetter erneut verschlechtert, bricht die Hubschrauberbesatzung ihre Suche für diesen Tag ab. Sie kehrt ins Tal zurück. Vielleicht morgen noch einmal. Alle Beteiligten wissen: Ihnen läuft die Zeit davon.
Dienstag, 26. Juni. Der dritte Tag im Eis.
In der Spalte ist die zweite Nacht für Hermann H. noch schrecklicher als die erste. Die Kälte zwischen den Eiswänden. Die Feuchtigkeit. Die Müdigkeit. Der Wunsch seines Körpers, endlich einzuschlafen, der ungeheuren Müdigkeit endlich nachzugeben. Das kurze Einnicken und das gleich darauf folgende panikartige Aufwachen. Wieder und wieder macht er Gymnastik in der Dunkelheit, um sich wachzuhalten, um nur ja die Wärme in seinem Körper zu halten. Der Hunger nagt in seinem Bauch.
Am Morgen tropft es von oben wie aus einer undichten Regenrinne. Der Regen scheint nun dichter zu fallen, wenigstens verdursten wird er hier drin nicht. Er hält die Hand auf, es dauert, bis sich eine Handvoll Eiswasser darin gesammelt hat, er schlürft es hastig. Und träumt von einem heißen Tee. Gegen Mittag wird es heller über dem Loch, für einen kurzen Moment zeigt sich sogar ein winziges Stück blauer Himmel. Plötzlich hört er den Hubschrauber, der über dem Gletscher kreist. Hört aufgeregt, wie der Hubschrauber mal näher kommt. Sich wieder entfernt. Dann wieder näher kommt.
Er schreit aus Leibeskräften, er springt in die Höhe auf seinem schmalen Schneebrett, als könnte er durch seine Sprünge in der engen Spalte auf sich aufmerksam machen. Doch er weiß, er ist verborgen in seinem eisigen Schrank, zu dem niemand den Schlüssel besitzt.
Als der Hubschrauber sich am Nachmittag entfernt und sein Knattern nicht wiederkehrt, ergreift ihn Verzweiflung. Er weiß, dies war seine Chance gewesen. Vielleicht seine letzte. Er weiß, eine dritte Nacht wird er zwischen den Eiswänden nicht durchstehen. Diesmal würde er nicht mehr kämpfen. Er würde nachgeben. Und wenn es soweit war, einfach tief und fest schlafen.
Dienstag, 26. Juni. Grainau am späten Nachmittag.
Als der Hubschrauber meldet, seine Suche ohne Ergebnis abzubrechen, ist das für die Bergretter ein Tiefschlag. Zwei Tage ist der Mann nun vermisst. Zwei Tage mit miserablen Bedingungen.
Nur einem lässt das keine Ruhe. Anton Vogg, der Vater. Vogg I. Er ist zu diesem Zeitpunkt 48 Jahre alt, er hat es als Zwanzigjähriger am eigenen Leib erfahren: "Wenn keiner kommt, bist Du weg vom Fenster." Es ist das einzige, was er sicher weiß. Sonst weiß er nichts. Er ist sich nur sicher in seinem Gefühl: "Der Mann muss da oben irgendwo sein. Irgendwo auf dem Gletscher. Das gibt’s nicht, dass er weg ist. Bei der intensiven Suche hätte man ihn längst woanders entdeckt."
Anton Vogg bleibt hartnäckig. Trommelt, kaum dass Feierabend ist, wieder die anderen zusammen. Fordert erneut den Hubschrauber der SAR aus Landsberg an, der um 17:17 Uhr in Grainau eintrifft. Acht Männer steigen ein, der Hubschrauber wird sie nach oben bringen, das Wetter ist halbwegs gut.
Die acht konzentrieren ihre Suche zunächst auf die bekannten Spalten am Höllentalferner. Jeder von ihnen kennt die Zonen, wo die Spannung des Eises den Gletscher reißen lässt. Aber sie wissen auch, dass der Gletscher beständig sein Antlitz verändert, sie längst nicht jede einzelne Spalte kennen können. Systematisch steigen die vier Teams unabhängig voneinander nach oben, sie rufen, sie schreien. Eineinhalb Stunden steigen sie den Gletscher langsam aufwärts. Nichts. Kurz vor 19:00 Uhr vernimmt einer, der mit seinem Kollegen die obere rechte Kante des Gletschers absucht, ein schwaches Rufen.
Es dringt aus einem schmalen Loch in der geschlossenen Schneedecke. Als sie vorsichtig nähertreten, entdecken sie die Spalte. Und den Mann dort unten. In Windeseile versuchen sie, ihn von da unten heraufzuholen. Er ist schwach, kann sich aber selber noch ins Seil einhängen, das die beiden Retter zu ihm hinunterlassen. Als die übrigen Kollegen zum Unglücksort aufgestiegen sind, ist der Mann schon aus der Spalte befreit.
Hermann H. spricht nicht viel, als sie ihn sofort in eine wärmende Rettungsdecke wickeln und in einen Luftrettungsbergesack legen. Er ist nicht nur mit seinen Kräften am Ende, als ihn die Männer im Bergesack am Tau des Hubschraubers befestigen. Langsam wird der Verletzte nach oben gewinscht, wo er ins Innere des Helikopters geholt wird.
Als sich wenige Augenblicke später über ihnen die Tür des Hubschraubers schließt und er abdreht, Richtung Tal, um Hermann H. in die Klinik zu fliegen, stehen die Männer einen Moment lang noch zusammen. Auf einem Foto sieht man ihre Gesichter. Eben noch angespannt, sind sie jetzt gelöst. Einer raucht. Und schaut den Steilhang hinunter, glücklich, dass es gut ausgegangen ist, und sie den Vermissten gegen alle Wahrscheinlichkeit lebend bergen konnten. Ihren Gesichtern sieht man an, wie stolz sie sind in diesem einen Moment, bevor sie gleich ihr Material sortieren, ihre Rucksäcke packen. Und auf den Hubschrauber warten, der auch sie in der Dämmerung vom Höllentalferner nach unten bringen wird.
Es ist ein sonniger Oktobernachmittag, doch kühl im Bergwachthaus am Fuß der Zugspitze, in dem Vater und Sohn Vogg abwechselnd diese Geschichte erzählen, die jetzt elf Jahre zurückliegt und die sie trotzdem nicht vergessen haben. Und über die Gegenwart nachdenken. "Fast jedes Jahr kommt es zu Spalten-Unfällen. Aber noch höher ist die Zahl der ‚Beinahestürze‘ und der Personen, die sich selber wieder befreien können", sinniert der junge Bergwachtler. "Die Ursache für Stürze ist oft etwas ganz Banales in einem Moment, in dem man sich sicher glaubt: Etwa das Hantieren an den Schuhen, dort wo der Übergang vom Eis zum Felsen ist."
Ob sie bei der engen Zusammenarbeit in kleinen Teams nicht öfter in leidige Vater-Sohn-Diskussionen gerieten? Da lachen die beiden. Nein, das käme nicht oft vor. Ihr Geheimnis sei, die Stärken des anderen gut zu kennen: "Mein Vater ist besser in der Organisation. Er behält stets den Überblick, wenn er einen Einsatz koordiniert." "Dafür bist du schneller bei einem Verletzten, als ich oft schauen kann. Du bist der geborene Rettungssanitäter von uns beiden. Das wichtigste ist: Jeder im Team muss seine Stärken ausspielen. Erst wenn jeder die Chance hat, das zu tun, was er am besten kann, wächst das ganze Team."
Beide sind sie verheiratet. Was ihre Frauen über einen Einsatz wie den am Höllentalferner dächten? Wie sie denn mit ihrer Sorge um die Männer bei einem Einsatz umgingen?
Da müssen die beiden einen Moment überlegen. Sie sind in unterschiedlichen Lebenssituationen. Bei Anton Vogg Senior sind die Kinder aus dem Haus, die Firma läuft. "Mir war die Bergwacht immer wichtig. Das Helfen. Meine Frau hat das immer verstanden und akzeptiert. Sie ist viele Touren mitgegangen, sie kennt das."
Anton Vogg Junior ist noch keine 30. Er hat eine Familie gegründet, hat einen drei Jahre alten Sohn und eine einjährige Tochter. "Meine Frau geht zwar in die Berge", sagt er, "sie unternimmt aber keine Kletter- und Hochtouren. Dass der Christoph und ich uns engagieren, ist für sie in Ordnung."
Er macht eine Pause. Denkt nach, als fiele ihm schwer zu sagen, was er jetzt sagt: "Nur manchmal, wenn ich morgens um zwei raus muss, wenn wir die ganze Nacht bei schlechtem Wetter am Berg unterwegs sind und Bergsteiger retten, die sich überschätzt haben, falsch ausgerüstet sind, sich nicht vernünftig über die Tour oder Verhältnisse informiert haben, und hinterher erzähle, dass wir jemanden aus der Wand geholt haben, dann schaut mich meine Frau an: ‚Spinnt’s ihr eigentlich?‘, sagt sie dann, ‚Warum musst du in der Nacht rauf auf den Berg, nur weil sich einer überschätzt oder verlaufen hat, der es hätte wissen können?‘" Aber warum er morgen Früh wieder gehen würde, das weiß Anton Vogg Junior an diesem Oktobertag. Genauso wie sein Vater.
Diese Geschichte stammt aus dem Buch Am Berg. Bergretter über ihre dramatischsten Stunden (als Buch, Hörbuch und eBook erhältlich, Info siehe unten) – Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Verlags millemari.
Interview mit Autor Thomas Käsbohrer
Warum schreibt ein Segler ein Buch über die Bergwacht?
Berge, Meer und Outback sind nicht so verschieden. Man hängt beim extremen Draußensein ja immer vom gleichen ab: Seiner Selbsteinschätzung. Seiner Erfahrung. Dem Wetter. Der Ausrüstung. "Research ist immer ‚Me Search‘", sagt einer der Interviewpartner im Buch – ich wollte etwas lernen, auch über mich.
Was treibt Menschen an, anderen am Berg zu helfen?
Am Anfang steht die Faszination für einen ungewöhnlichen Lebensraum. Ein Stück Grenzgängerei spielt eine Rolle. Wer heute aktiv in der Bergwacht ist, stellte irgendwann fest, dass ihm "nur rumlaufen" oder "auf Abenteuer" aus sein, zu wenig war. Oder wie es ein älterer Bergwachtler sagte: "Es gibt kein höheres Glücksgefühl, als nach mehrtägiger ergebnisloser Suche eine Vermisste plötzlich lebend zu finden." Helfen können ist bei allen schon ein großes Stück Sinnfindung.
Gab es Personen, die Sie besonders beeindruckt haben?
Tatsächlich war ich von jeder der Personen tief beeindruckt, sobald sie zu erzählen begannen. Sie sind ganz normale Menschen, die aber von einem Moment auf den anderen schwerwiegende Entscheidungen treffen müssen wie der Einsatzleiter bei einem Lawinenunglück, der während der fieberhaften Suche nach zwei Lawinenopfern erfährt, dass er die Hälfte seiner Suchmannschaft sofort zu einer eingestürzten Eishalle abstellen muss. Es sind mehr die inneren Extremsituationen, die mich tief beeindruckten.
Wie kommen die Bergwachtler mit schrecklichen Erlebnissen klar?
Strategien zur Bewältigung schrecklicher Erlebnisse gab es bei der Bergwacht früh. War ein Einsatz beendet, redete man beim "Einsatzbier" über das Erlebte. Klingt banal, ein Unfallpsychologe hat mir aber die Augen geöffnet, dass alles Schreckliche seine Einordnung ins eigene Leben dann erfahren hat, sobald man mit anderen darüber reden kann. Schwierig wird, worüber einer im Leben nicht reden kann. Seit knapp zwei Jahrzehnten gibt es den Kriseninterventionsdienst, der sich um Angehörige von Verunglückten und um Bergwachtler kümmert. Doch kein Mensch ist wie der andere. Selbst der, der Schreckliches gut weggesteckt hat, trägt irgendwie immer noch daran. Das kommt in vielen Geschichten gut rüber.
Bekommen die ehrenamtlich tätigen Bergwachtler genug Anerkennung?
Es geht den wenigsten um Anerkennung. Sie sind intrinsisch motiviert und wissen, warum sie tun, was sie tun. Sie holen sich viel Motivation aus dem engmaschigen sozialen Netz ihrer Bergwacht-Teams. Es geht eher um ein "richtig gesehen werden": Wer morgens um drei Uhr zu einem Verunglückten aufsteigt, tut es neben seinem Fulltime-Job, neben seiner Familie. Und häufig, weil Menschen ahnungslos in etwas reingeraten oder sich überschätzen. Da muss sich mancher junge Familienvater daheim fragen lassen, ob er noch alle Tassen im Schrank hat. Das zehrt. Sie tun es trotzdem. Weil sie aus ihrer eigenen Vergangenheit wissen: "Wenn keiner kommt, bist du weg vom Fenster."