„Das Gehirn ist der wichtigste Muskel beim Klettern“ sagte schon der Ausnahme-Kletterer Wolfgang Güllich. Warum der Kopf so wichtig ist und wie wir uns mentale Techniken fürs Bouldern zunutze machen können.
Gut bouldern – was gehört dazu?
Eigentlich logisch: Wir bouldern gut, wenn wir gut drauf sind. Wenn wir motiviert sind, wach, angriffslustig und konzentriert. Diese fürs Bouldern geeignete Stimmung nennen Mentaltrainer das richtige „Aktivierungslevel“. Es variiert je nach Persönlichkeit oder auch den Anforderungen der Sportart, in unserem Fall auch des Boulders: Ein Sprung erfordert mehr Explosivität als eine geneigte Platte mit seichten Griffen, auf der man ruhig und vorsichtig agieren muss. Je entspannter und lockerer wir sind, desto besser können wir uns auf die verschiedenen Anforderungen einstellen. Im Prozess, das Bouldern zu lernen, lernen wir meist auch, die jeweils richtige mentale Herangehensweise zu finden.
Schwieriger wird es, wenn wir mal nicht perfekt aufgestellt sind. Wenn wir müde sind, oder zögerlich, oder an unseren Fähigkeiten zweifeln. Oder wenn wir gestresst sind, oder nervös. Das wichtigste mentale Werkzeug ist die sogenannte Selbstregulation, also die Fähigkeit zu erkennen, in welcher Stimmung man ist und sich daraufhin selbst so zu beeinflussen, dass man das optimale Aktivierungslevel erreicht. Diese Fähigkeit ist trainierbar, und als wichtigste Methode werden dazu Entspannungstechniken eingesetzt (siehe rechts). Damit diese greifen, müssen sie allerdings regelmäßig geübt werden.
Raus aus der Komfortzone
Beim Bouldern wird man besser, wenn man die Komfortzone verlässt. Das Prinzip, Trainingsreize zu setzen, gilt sowohl physisch als auch psychisch, wobei in der Praxis oft das eine mit dem anderen einhergeht. Trainingspapst Dr. Guido Köstermeyer beschreibt das Prinzip: „In der Komfortzone bewegen wir uns stressfrei. Wir entwickeln uns aber auch nicht. Erst wenn wir etwas Neues machen, in den unbequemen Bereich kommen, entwickeln wir uns. Der Stress sollte positiv als Herausforderung gesehen werden. Wir sollten ein Kribbeln im Bauch haben und keinen Kloß im Hals.“
An unseren Baustellen im Kopf zu arbeiten, erfordert meist Überwindung. Schließlich sind wir darauf programmiert auszuweichen, wenn uns etwas Unangenehm ist. Situationen, die uns peinlich sind, Versagen, Misserfolg und Scheitern, so lernen wir von Kindesbeinen an, sind negative Erfahrungen, die wir zu vermeiden suchen. Ergebnis: Der psychologische Schweinehund dirigiert uns zielgerichtet zur nächsten sicheren Bank.
Einerseits ist dies sinnvoll, so finden wir Boulder, die uns liegen, und kommen erfolgsverwöhnt und happy nach Hause. Schließlich zahlt uns niemand Geld dafür, dass wir uns quälen. Doch wer sich ernsthaft verbessern möchte, muss den Schweinehund an die Kette legen. Es ist also wichtig, etwas potenziell Unangenehmes so zu interpretieren, dass wir uns darauf freuen. Dabei hilft vor allem: Motivation.
Motivation ist der Schlüssel
Die Freude am Bouldern äußert sich in unserer Motivation. Sie wird zur Triebkraft, bouldern und trainieren zu gehen. Dank Motivation entwickeln wir Ehrgeiz und Willenskraft, schwere Boulder zu schaffen. Je nach Persönlichkeit, Ausprägung der Leidenschaft fürs Bouldern und Veranlagung sind es diese drei mentalen Aspekte, Motivation, Ehrgeiz und Willenskraft, die unsere Kletterfähigkeiten mehr oder weniger voranbringen. Dies erkannte schon Kletter-Pionier Wolfgang Güllich: „Nur die Einstellung, der Wille zur Durchführung eines Problems ist die Maßgabe aller Dinge.“
Die persönliche Einstellung ist dabei wichtig für den Erfolg (will ich mein Bestes geben oder probiere ich nur so ein bisschen herum?), aber auch für die Gesamtzufriedenheit. Wenn ich fest damit rechne, einen schweren Boulder zu klettern, bin ich vermutlich eher unzufrieden, sollte es nicht gelingen. Wenn ich hingegen zwar alles gebe, aber meine Erwartungshaltung dabei ergebnisoffen bleibt, wird der Durchstieg zum Geschenk. Man braucht nicht lang zu überlegen, um zu erkennen, welcher Ansatz auf Dauer mehr Freude verspricht.
Den Weg zum Ziel nehmen
Um den von Köstermeyer beschriebenen unbequemen Bereich weniger unangenehm zu machen, könnte es helfen, die eigene Zielsetzung zu hinterfragen. Bouldere ich in erster Linie für das Erfolgserlebnis, einen Boulder zu schaffen, oder bouldere ich, um mich Herausforderungen zu stellen? Letzteres ist deutlich empfehlenswerter. Denn wenn ich Herausforderungen annehme, werde ich im Zuge dessen auch Boulder schaffen – und mich aber nicht als Versager fühlen, wenn es mal nicht klappt.
Des weiteren hilft der Fokus auf den Prozess, eine wichtige Grundvoraussetzung beim Bouldern zu erfüllen: nämlich die, alles zu geben. Das ist nicht so selbstverständlich, wie es sich anhört. Weltcupsiegerin Shauna Coxsey sagt: „Viele Kletterer sieht man scheitern, weil sie mental aufgegeben haben, bevor ihre körperliche Leistungsfähigkeit erschöpft ist. Viele denken, sie geben 100 Prozent, aber eigentlich geben sie nur 60 oder 80 Prozent. Das macht das Klettern so anspruchsvoll. Man muss absolut alles geben können.“ Die eigenen Reserven zu mobilisieren, ist nicht unbedingt einfach. Es gibt auch noch eine weitere verhängnisvolle Begründung, warum man eventuell nicht Vollgas gibt. Wenn ich nämlich „nur ein bisschen probiere“, kann ich mir den wahrscheinlich eintretenden Misserfolg prima erklären, denn ich habe es ja gar nicht „richtig“ versucht. Somit ist das Scheitern zwar relativiert, doch ich verbaue mir auch die Chance, an mein wahres Potenzial heranzuklettern. Das nennt man dann Selbstsabotage.
Angst, Druck, Stress
Das häufiste mentale Hindernis beim Bouldern ist vermutlich Angst. Das kann Angst vor Verletzung oder unkontrollierten Stürzen sein, aber auch Versagensangst vor sich selbst oder anderen. Es gilt zu unterscheiden zwischen konkreter Angst, die uns vor Verletzungen bewahrt und uns vorsichtig sein lässt, sowie der Angst, die eher diffus ist und sich manchmal nur in einem unangenehmen Gefühl äußert. Zum Beispiel, weil unser Selbstwertgefühl nicht leiden will, weil wir vor unseren Boulderkollegen nicht doof dastehen wollen, oder weil etwas nicht zu können so frustrierend ist. Weil Angst aber eben auch hilfreich ist, indem sie uns vor Leichtsinn und Verletzungen schützt, müssen wir sorgfältig unterscheiden lernen. Und die Angst nicht insgesamt ausblenden, sondern mit ihr leben lernen. Manchmal sind die Übergänge fließend. So ist die Angst vor wackeligen Zügen oder vor unkontrollierten Stürzen ja in gewissen Maßen sinnvoll. Außer: Sie bremst uns ständig aus und führt zu Vermeidungsverhalten. Hier gilt es, genau und ehrlich hinzuschauen.
Angst ist physiologisch betrachtet Stress, und Stress hindert uns daran, komplexe Bewegungen optimal auszuführen. Im Leistungssport ist dies bekannt: Spitzenleistung – und nichts anderes ist das Bouldern an der persönlichen Leistungsgrenze – lässt sich nicht erzwingen. Sie „passiert“, wenn die inneren Bedingungen stimmen. Mentaltrainer wissen, dass Angst, ob nun in Form von Querschläger-Gedanken („ich schaff das nicht!“) oder auch unbestimmte Angst (komisches Gefühl, Abneigung) ein ernsthaftes Hemmnis darstellen. Angst kann die Lockerheit rauben, die Bewegungskoordination stören. Wer nervös ist, kann kaum mehr kreativ sein. Wer sich selbst zu viel Druck macht, etwas unbedingt klettern zu wollen, läuft auch Gefahr, sich mit diesem unterschwelligen Stress die Leistung zu verderben. Da hilft dann wieder der Fokus auf den Prozess, die Freude am Bouldern selbst. Dass unangenehme Gefühle ausgeräumt werden, ist wichtig, damit wir ohne innere Hemmung Vollgas geben können und Mut und Selbstvertrauen in die eigenen Fähigkeiten entwickeln können.
Tipps für bessere Leistung beim Bouldern
Stress jeglicher Art beschränkt unsere Fähigkeiten. Diese Tipps sorgen für Stressresistenz und verbessern das Kopfkino, sodass unser „wichtigster Muskel“ seine Arbeit optimal tun kann.
Locker bleiben! Manchmal gar nicht so einfach. Deshalb ist die Fähigkeit zu entspannen wichtig. Sie lässt sich beim Bouldern trainieren, etwa durch Beobachtung der Atmung und der eigenen Gedanken. Die eigene Motivation zu steuern und zu nutzen, ist eine weitere Methode, um sich mentale Stärke beim Bouldern zunutze zu machen. Außerdem ist bekannt, dass eine positive Grundhaltung guter Leistung förderlich ist. Um in die richtige Leistungsstimmung – also das optimale Aktivierungslevel – zu kommen, ist erlaubt, was gefällt: Ob Rituale wie kräftig chalken, den Boulder angrinsen oder gedanklich singen – wenn es hilft, tu es. Im Folgenden erklären wir einige gebräuchliche Techniken aus der mentalen Werkzeugkiste.
Warum Entspannen so wichtig ist
„Entspannt sein ist die Grundlage. Ich muss mich in einen entspannten Zustand begeben können, um mich konzentrieren zu können, Bewegungen visualisieren zu können, oder auch um Emotionen zu beobachten und mit ihnen zu arbeiten. Das geht gut über Atemübungen, auch Yoga und Meditation sind verbreitete und hilfreiche Techniken. Vor allem für die Regeneration ist dies wichtig,“ erklärt die Mentaltrainerin Alexandra Albert. Das heißt zu deutsch, dass wir nicht nur besser bouldern können, sondern uns auch besser erholen, wenn wir gut entspannen können. Gute Erfolge erzielen Mentaltrainer mit Atemübungen. Denn mit ruhiger Atmung lässt sich der innere Pegel direkt herunterregeln. Bist du zu entspannt, atme schneller und intensiver um dich zu aktivieren.
Selbstregulation lernen
Die Situation ist unangenehm? Suche Argumente dafür, dass sie angenehm ist. Untersuche unangenehme Gefühle auf ihre Ursache. Bei diffuser Angst (ich kann oder will den Zug nicht machen) empfehlen Mentaltrainer, sie in einem ersten Schritt in eine konkrete Furcht umzuwandeln. Auf dieses dann besser greifbare Problem (ich kann die Sturzbahn nicht einschätzen) lässt sich dann eine konkrete Antwort finden (Probe-Sprung und Austesten der Landesituation). Eine andere Methode ist, sich das Worst-Case-Szenario auszumalen (ich falle runter, die anderen sehen mich versagen) und es dann zu entschärfen (meistens interessiert es die anderen nicht, ob und wo man runterfällt). Wenn man sich der Situation nicht gewachsen fühlt, gilt es, sich selbst wie einen guten Freund zu coachen. Sprich dir Mut zu, und denke daran, dass du gern boulderst, und dass man aus schwierigen Situationen stärker hervorgehen kann, wenn man sich ihnen stellt.
Ziele setzen
Unser Bewusstsein kann nicht sehr viele Dinge gleichzeitig tun, viele Prozesse laufen im Unbewussten ab. Damit diese unbewussten Abläufe in die richtige Richtung gehen, ist es wichtig, über das Bewusstsein die Weichen richtig zu stellen. Nicht nur dafür ist die Arbeit mit Zielen sehr hilfreich. Man weiß mittlerweile, dass Zielsetzung motiviert und Sportler am besten dann unterstützt, wenn die Ziele mit konkreter Zeitangabe und Beschreibung aufgeschrieben werden. Zum Beispiel: „Heute klettere ich geschmeidig und bewusst.“ Kleine und realistische Zwischenziele können auf dem Weg zu größeren Zielen als Meilensteine fungieren. Aber auch Fernziele wie ein schweres Projekt oder ein Urlaub können die Motivation aufbauen und zum Durchhalten in anstrengenden Trainingsphasen motivieren.
Buchtipps zum Thema besser bouldern
Für die vertiefende Lektüre empfohlen: Diese Bücher bieten umfassendes Hintergrundwissen zum Mentaltraining fürs Bouldern und Hochleistung.
Für Boulderer und Kletterer rundum sinnvoll:
9 von 10 Kletterern machen die gleichen Fehler von Dave MacLeod, Riva Verlag 2012, 256 Seiten, 17,99 €
Für alle, die tiefer ins Mentaltraining einsteigen wollen:
Praxis der Sportpsychologie von Jürgen Beckmann & Anne-Marie Elbe, 2. Auflage, Spitta Verlag 2011, 186 Seiten, 24,80 €