"Hauptsache, ich war bouldern"

Boulderbesessenheit
„Hauptsache, ich war bouldern“

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Dass und wie sehr Bouldern süchtig machen kann, zeigt dieser Bericht eines sehr besessenen Boulderers.

Dieser Bericht erschien im Rahmen der Reportage Begeistert oder besessen? Warum Klettern süchtig macht in KLETTERN 4-2022

"Das fing so an, dass ich ein kleiner dicker Junge war. Nach einem Austausch kam ich aus Kanada wieder und habe mit 14 Jahren 80 Kilo gewogen, gekifft, gesoffen und bin beim Graffiti-Sprühen erwischt worden. Dann haben meine Eltern mich für ein Jahr nur noch mit den alten Leuten klettern lassen. Die alten Leute waren begeistert, als ich mit 15 die kleinen Griffe festhalten konnte, ich bekam Anerkennung, konnte mal was gut. Da habe ich mich dann aufs Klettern fixiert.

Als die Kletterhallen kamen, konnte man richtig loslegen, da haben wir uns noch mehr gepusht. Im Wiesbadener Cave haben wir die Campusleiste runtergehobelt, um sie kleiner zu machen. Ich hab nichts anderes mehr gemacht, nur die Firma, die Dönerbude, das Campusboard, am Wochenende raus. So ‘nen Bizeps und Waschbrettbauch hatte niemand mit 16 in der Klasse sonst. Aber das waren nur positive Nebeneffekte. Es ging primär um diese Boulder, die ich um jeden Preis hochkommen musste.

warum macht Klettern süchtig?
Sarah Burmester
Viele Facetten machen das Bouldern (hier: Fontainebleau) zu einer sehr erfüllenden Angelegenheit. Man kann sich allerdings auch am Erfolg festbeißen. Der hier abgebildete Boulderer ist nicht der, dessen Protokoll wir hier veröffentlicht haben.

Mit 18 habe ich nur noch 51, 52 Kilo gewogen, konnte dafür 8A bouldern und fand es cool, weil alle das cool fanden. Ich habe nur noch fürs Wochenende gelebt. Montag bis Donnerstag möglichst viel arbeiten, dazu viel trainieren, Freitag 12 Uhr Abfahrt, wenn‘s gut lief noch den Montag dranhängen und die angehäuften Überstunden zum Klettern nutzen. Ruhetage gab es nicht. Meine Ausbildung, die Arbeit im Großkonzern, das war mir egal, das war nicht mein Ding. Mein Kopf war immer draußen, das war mein geistiger Rückzugsort. Jahrelang habe ich mich von Projekt zu Projekt gehangelt. Ich hab Boulder geputzt und erstbegangen, als gäbe es sonst nichts auf der Welt. Ich habe im Winter in meinem Fiesta gepennt, das Eis von innen abgekratzt – alles egal, Hauptsache, ich war bouldern, Weihnachtsfeiertag hin oder her.

Mein Leben bestand hauptsächlich aus Trainingspläne abarbeiten, wenig essen, pennen. Wettkämpfe haben mich nicht interessiert. Im Gegensatz zu Bouldern in der Halle bleibt der Fels bestehen, daher hat nur Leistung am Fels gezählt. Irgendwann hat meine damalige Freundin (heute meine Frau und Mutter unserer zwei Kinder) gesagt: "Wenn du jetzt gehst, brauchst du nicht mehr wiederkommen!" Ich hab meine Sachen gepackt und bin gegangen, weil Klettern wichtiger war. Es ging nur darum, schwere Boulder zu ziehen. Mir war auch egal, ob es ein schöner Boulder war, Hauptsache schwer genug. Das war wie Arbeit.

Als ich Marrakesch am Sustenpass projektiert habe, bin ich acht mal hingefahren, oft allein. Ich brauchte keine Gesellschaft und mich hat auch die Natur nicht interessiert, es ging nur um den Erfolg beim Bouldern. Beim achten Mal hab ich es dann Freitags geklettert und bin direkt abends wieder heimgefahren. Letztlich ging es um diese zehn Minuten Befriedigung nach dem Durchstieg, darauf war ich aus. Dann konnte ich zum Mäckes gehen, mir ein paar Cheeseburger und 40 Chicken McNuggets reinhauen und war zufrieden. Nach dem Wochenende ging das Spiel dann wieder von vorne los.

Irgendwann war das Klettern nicht mehr cool, sondern Zwang. Ich hätte gar nicht gewusst, was ich sonst hätte machen sollen am Wochenende. Mit irgendwelchen Leuten grillen war mir viel zu langweilig. Alles musste produktiv und effektiv sein, um sich fürs Bouldern zu lohnen, sonst war ich raus. Ich war letzlich vereinsamt, weil ich maximal Leute zum Training getroffen habe. Damals habe ich aber meist mit Musik auf den Ohren trainiert, damit mich ja niemand anlabert und mein Training stört. Meine besten Freunde in dieser Zeit waren Schmerztabletten.

Ein paar Jahre später habe ich per Zufall meine Freundin wiedergetroffen, und wir haben uns wieder zusammengerauft. Ich habe dann als letzten Boulder den Schlichter in der Pfalz projektiert und dann war es vorbei. Irgendwann merkt man dann, der eigene Name ist in der Szene nicht mehr präsent, die Erstbegehungen nicht mehr im Gespräch, es kommen neue starke Leute, die die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Erstmal hat mich das schon gewurmt. Heute bin ich froh, dass ich den Absprung geschafft habe.

Manchmal trauere ich natürlich der Zeit nach. Diese Fitness – was auch immer für eine Bewegung machen wolltest, du konntest es. Das geht heute nicht mehr. Das Gefühl der Freiheit fehlt mir manchmal. Ich denke, ich bin ein bisschen dazu veranlagt, mich sehr in Sachen reinzuknien. Das haben mir meine Eltern eingebläut und vorgelebt, und ich kenne auch andere Kletterer dieses Kalibers, die letztlich komplett egogesteuert allein durch die Wälder ziehen. Wenn man alles auf eine Karte setzt, dann kann man irgendwann auch nicht mehr zurück, weil nichts anderes diese Art von Befriedigung im Sinne von Bestätigung bringt. Heute bin ich breiter aufgestellt, habe Familie und drei Firmen gegründet. Aber Effizienz und Produktivität treiben mich nach wie vor an."

DIeser Boulderer (38) ist der Redaktion bekannt, möchte aber namentlich nicht genannt werden. Er klettert heute "zum Spaß"

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