Alles so schön bunt hier! Wer heutzutage mit dem Bouldern beginnt, tut dies in aller Regel indoor, in der Boulderhalle. Dort weisen Farben den Weg nach oben: mittels gleichgetönter Griffe und Tritte bei jedem einzelnen Boulder und allgemein durch eine farbliche Codierung der Schwierigkeiten. Obwohl manche Kletterhallen ihre Schwierigkeiten farblich an die Parcours des berühmten Bouldergebiets Fontainebleau angepasst haben, unterliegt die Farbenpracht der Hallen keinen übergreifenden Regeln, geschweige denn einer allgemeinen Norm.
Regel-, ja gar grenzenlos ist auch die Bandbreite der verbalen Definitionen für diese Farbsysteme. Das liegt zum einen daran, dass Grade gern Diskussionen hervorrufen und in der Halle vor allem eine grobe Orientierung geben sollen. Zum anderen erstrecken sich die farbigen Parcours in der Halle ("Rot ist neu!) absichtlich über mehrere Grade: So gibt es leichtere und schwerere Probleme in einer gegebenen Farbe. Das Gros der Hallenmenschen bouldert in der Halle und bleibt auch dabei. Manche zieht es eines Tages aber doch nach draußen. Und plötzlich ist (fast) alles anders: keine Weichbodenmatte, kaum Vorturner, nur blanker Fels. Maximal weisen winzige Pfeile die Richtung, und Chalkflecken zeigen, wo Vorgänger sich festgehalten haben. Oder es zumindest versuchten. Der Fels bietet dem ungeübten Auge kaum Informationen über die zu erwartenden Schwierigkeiten. Diese muss man einem Führer oder einer App entnehmen. Doch dort sind – oh Schreck – nicht die gewohnten Farbcodierungen, sondern nur mysteriöse Zahlen-Buchstabenkombinationen zu finden.
Die gute Nachricht: Im Kontrast zur Farb-Anarchie drinnen herrscht in der Natur nahezu Ordnung. Heute werden beim Felsbouldern weltweit überwiegend zwei Bewertungssysteme benutzt: die Fontainebleau- und die V-Skala. Erstere stammt aus der Wiege des Boulderns nahe Paris, zweitere wurde von John "Vermin" Sherman Ende der 1980er-Jahre in Hueco Tanks, Texas, entwickelt. Beide eint das Ziel, eine adäquate Bewertung meist nur wenige Züge umfassender Boulder zu ermöglichen, wozu Bewertungssysteme für zumeist ausdauerlastige Seilklettereien logischerweise nur bedingt taugen.
Bis vor einigen Jahren waren auf den britischen und japanischen Inseln eigene Boulderskalen im Einsatz: in Japan eine an die Dankyu-Grade heimischer Kampfsportarten angelehnte Abstufung, in Britannien die B-Skala. Inzwischen wird auch in Japan überwiegend die Fontainebleau- alias Fb-Skala benutzt, und jenseits des Ärmelkanals wurde der "B-exit" hin zum Kontinent und der "Font Scale" vollzogen. Damit werden mit ganz wenigen lokalen Ausnahmen in ganz Europa Boulder einheitlich bewertet, auch in Russland, Indien und Südafrika ist die Fb-Skala in Gebrauch. In Nord- und Südamerika, in Südostasien sowie in Australien und Neuseeland dient die "V-Scale" als Maßstab.
Beide Skalen sind nach oben offen und lassen sich mehr oder weniger direkt umrechnen. Die derzeit hochdekoriertesten Boulder weltweit rangieren im Grad Fb 9a respektive V17: Burden of Dreams in Lappnor, Finnland, 2016 von Nalle Hukkataival erstbegangen, und Return of the Sleepwalker in den Red Rocks, Nevada, im Frühjahr 2021 von Daniel Woods eröffnet. Unterhalb der Spitzenwerte entwickelt sich die V-Skala amerikanisch geradlinig, die Fb-Skala französisch distinguiert. Die V-Skala kommt mit je einer Zahl aus, sie beginnt bei V0. In manchen Gebieten oder Führern wird darunter noch VB (für Beginner) verwendet und zur feineren Abstufung bei den Graden bis V8 teils "-" und "+".
Die Fb-Skala nutzt jeweils eine Zahl (beginnend mit 1) und einen Buchstaben (a bis c), bis Fb 5 alternativ oft "-" und "+". Fb 4- entspricht 4a, 4 ist gleich 4b, 4+ gleich 4c. Ab Fb 6 werden immer Zahlen, Buchstaben und zur Feinabstimmung ein "+" kombiniert: Fb 6a, 6a+, 6b, 6b+, 6c, 6c+, dann Fb 7a bis 7c+, dann Fb 8a bis 8c+. Folglich bietet die Fb-Skala feinere Abstufungen als die V-Skala, erst ab Fb 7c oder V9 korrespondiert in den meisten Umrechnungen jedem Fb- ein V-Grad. Darunter sind sich die Boulder-Gelehrten uneinig. Im 2015er-Führer für Castle Hill in Neuseeland wird V4 mit Fb 6a übersetzt, laut Matt Wilders 2007er-Yosemite-Führer steht V4 für Fb 6c/6c+. Das ist ein himmelhoher Unterschied!
Unsere Umrechnungstabelle (siehe oben) liegt dazwischen und entspricht meinen subjektiven Erfahrungen zwischen Bleau und Bishop, Castle Hill und Cresciano, Hampi und Hueco Tanks sowie Red Rocks und Rocklands. Wohlgemerkt beziehen sich diese Umrechnungen auf die Bloc-Bewertungen der Fb-Skala. Denn diese unterscheidet zwischen Bouldern, die geradewegs nach oben führen und solchen, die vor allem waagrecht verlaufen. Hier kam früher, heute seltener, die Fb-Traversen bewertung zum Einsatz. Einfacher Grund: Während die Anzahl der vertikal verlaufenden Züge selbst bei hohen Bouldern beschränkt bleibt, verlangt manch klassische Traverse in Fontainebleau mehr Züge als eine durchschnittlich lange Route im Frankenjura. Sprich, hier kommt der Ausdauerfaktor hinzu, weshalb Traversen-Bewertungen einen Grad höher angesiedelt sind. Eine "Fb 7a+ trav" bietet maximal Einzelzüge mit der Schwierigkeit einer "Fb 7a bloc", das "+" gibt‘s als Bonus für aufgepumpte Arme. Heute hat sich allerdings die Bloc-Bewertung durchgesetzt; sofern nicht explizit vermerkt (Fb 7a trav), handelt es sich bei Fb-Bewertungen generell um Bloc-Grade.
Allerdings birgt die Fb-Skala eine weitere, deutlich folgenschwerere Verwechslungsmöglichkeit: Ihre Bezeichnungen unterscheiden sich äußerlich nicht von denen der französichen Routenskala. Doch auch hier können wir Entwarnung geben: Nachdem lange Jahre nur ein vorangestelltes "Fb" eine Verwechslung verhinderte, werden seit einigen Jahren bei den Bouldergraden zunehmend Großbuchstaben statt des lästigen "Fb"-Kürzels verwendet. Eine sinnvolle Gradschreibreform, die wir bei KLETTERN dankbar übernommen haben und die fortan auch in diesem Artikel zum Einsatz kommt.
Doch wie unterscheiden sich Boulder- und Routenbewertungen eigentlich? Und: Lassen sie sich nicht doch irgendwie vergleichen? Die Antwort: Eine Eins-zu-eins-Umrechnung von Boulder- in Routengrade ist nicht möglich, eine ungefähre Korrelation lässt sich aber angeben. Voraussetzung: Der Ausdaueraspekt spielt keine wesentliche Rolle. Dann entspricht ein 6A-Boulder etwa einer Route im Bereich 6c+, 7A circa 7c und 7C etwa 8a+ bis 8b. Trotzdem bleibt es ein Vergleich von Äpfeln und Birnen. Zwei Beispiele: Über die 52 Meter lange Route La novena enmienda (früher 9a+, inzwischen 9a) sagte Adam Ondra 2008: "Das ist reine Kraftausdauer, da ist kein Zug schwerer als 7A." 2017 beschrieb der starke Tscheche sein Meisterstück Silence – bis heute weltweit die einzige Route im Grad 9c – äußerst dezidiert. Das klingt ungefähr so: Den Auftakt bilden 20 Meter im Grad 8b, es folgt ein Fünf-Züge-Boulder im Bereich 7A+, der in die lange Cruxsequenz überleitet. Diese besteht aus drei markanten Boulderproblemen: Das erste bietet zehn Züge "hart 8C", es folgen vier athletische Moves im Grad 8B und zum Abschluss eine wackelige Passage mit rutschigen Tritten im Bereich 7C+. Nach einem abschließenden Fünf-Züge-Boulder im Grad 6C wartet endlich der Umlenker.
Dieses analytische Zerlegen in einzelne Abschnitte ist zum Standard bei der Beschreibung harter Sportklettereien geworden. Bouldergrade sind also äußerst hilfreich, die Schwierigkeiten einer Route zu veranschaulichen und um deren Bewertung zu begründen. Damit wird aber auch klar, dass eine direkte Korrelation von Boulder-und Routengraden eher theoretischer Natur ist. Es kommt immer darauf an, wie viele, wie schwierige und wie lange Boulderpassagen wo warten, was vor und nach diesen gefordert wird, ob und wo Rastpositionen existieren – und ob nicht ein nominell leichter Abschluss im entkräfteten Zustand noch zur Durchstiegs-Crux wird. Umso überraschender kam für mich Adam Ondras pauschales Statement nach seiner Erstbegehung von Taurus (9b) Ende 2021: "Ich glaube, dass 8C einer 9a+ und 8C+ einer 9b entspricht." Wie passt das zur 9c-Bewertung von Silence?
Noch trefflicher als über die Korrelation von Boulder- und Routengraden lässt sich über jede einzelne Bewertung streiten. Es ist draußen wie drinnen: Muss eine kleinere Person einen miesen Griff anspringen, ist das logischerweise schwieriger, als wenn eine größere entspannt stehen bleiben kann. Da beim Bouldern nur wenige Züge den Grad bestimmen, sind anatomische Unterschiede relevanter als beim Seilklettern. Oft sind Boulder mit größenabhängigen Schwierigkeiten in Führern als "morpho" gekennzeichnet. Des weiteren hat jeder Boulderer Stärken und Schwächen, der eine klettert lieber an Sandstein, der andere bevorzugt Granit. Auch gibt es Unterschiede zwischen den Gebieten: Die Bewertungen in Fontainebleau gelten als hart. Das liegt daran, dass dort seit 1880 gebouldert wird und jeder Grad hart erkämpft wurde. Vor dem Ersten Weltkrieg rang man um 3C und 4A, die erste 5C 1934 und die erste 6A 1946 sind legendär. Und so bekommt man dort vor allem bis 6C nichts geschenkt, zumal der Sandstein durch die unzähligen Begehungen nicht rauer geworden ist.
Hitzige Diskussionen über Grade gehören zum Bouldern wie Mantle und Crashpad. Ob da eine noch größere Ausdifferenzierung mittels Slashgraden wie 8C/8C+ (oft als "8C/+" abgekürzt) oder Ergänzungen wie "hard 8B+" oder "soft 8C" sinnvoll sind – auch darüber lässt sich trefflich streiten. Um Grade-Diskussionen oder die Reduktion von grandiosen Linien auf eine Zahl zu vermeiden, verzichteten Profikletterer wie Chris Sharma und Bernd Zangerl bei ihren Erstbegehungen zeitweise ganz auf Bewertungen. Unstrittig ist, dass Grade motivieren und für Glücksgefühle sorgen können. Besonders wenn sie signalisieren, dass man einen neuen persönlichen Level erreicht hat. Die "magischen Grade" der Fb-Skala sind 6A, 7A, 8A und 9A. Umso undankbarer sind oft die Grade direkt darunter. Ich konnte noch nie einen Unterschied zwischen 6C+ und 7A erkennen, meine Frau, die schon 8A gebouldert hat, steht mit 5Cs auf Kriegsfuß. Vielleicht weil diese Grade oft von tiefstapelnden Erstbegehern vergeben werden, die keine Abwertung riskieren wollen?
7C+ dagegen ist die magische Schwierigkeit schlechthin – aber nur auf der V-Skala, denn hier wird‘s zweistellig: V10. Damit wäre en passant auch geklärt, wie Boulder überhaupt zu ihren Graden kommen: Wer einen Boulder als erster klettert, gibt ihm einen Namen und schlägt einen Grad vor. Dieser wird über Mundpropaganda, Social Media und irgendwann offiziell in einem Führer kommuniziert. Beschweren sich viele Wiederholer lautstark oder der Führerautor ist anderer Meinung, droht dem Boulder eine Abwertung. Aufwertungen sind eher selten. Bei Führer-Apps wie Bimano oder auf bleau.info können User ihre persönliche Einschätzung zur Schwierigkeit abgeben. In aller Regel hat die Bewertung des Erstbegehers aber schon besonderes Gewicht und wird nicht gleich bei der ersten Kritik korrigiert.
Bleibt eine letzte Frage: Lassen sich die Schwierigkeiten indoor und outdoor überhaupt vergleichen? Solange Indoor-Boulder nur farbcodiert sind, ist natürlich keine direkte Korrelation möglich. In US-Hallen werden offenbar öfter Grade vergeben, jedenfalls unternahm die Webseite climbing.com 2017 den Versuch, Indoor- und Outdoorbewertungen zu vergleichen. Ihr Ergebnis: In den unteren Graden erfordern Felsboulder deutlich mehr Fitness und Technik als gleich bewertete Plastikboulder. Demnach sei eine Fels-V0 einem Hallenboulder irgendwo zwischen V2 und V5 gleichzusetzen. Das scheint übertrieben, aber die Tendenz dürfte stimmen. Der Grund für die Diskrepanz: In der Natur findet man fast nie wohlplatzierte Abfolgen von ergonomischen Henkeln, die sich wie eine Sprossenwand klettern lassen, ebensowenig Reihen von Riesentritten. Je technischer ein Felsproblem, desto größer die nominelle Differenz zum Plastik.
Kein Wunder, dass hierzulande die meisten Hallenbetreiber ganz auf – entweder unrealistische oder frustrierende – Gradangaben verzichten. Werden die Boulder athletischer und schwieriger, gleichen sich Indoor-und Outdoor-Bewertungen jedoch an. Und wer oft draußen bouldert, aber wenig trainiert, wird am Fels vermutlich bald höhere Grade ernten als drinnen. Beim Umstieg von Plastik auf Fels sollten Grade erstmal keine Rolle spielen. Dann gilt es, für Sicherheit zu sorgen, sich an die Materie Fels zu gewöhnen und vor allem Spaß zu haben. Wer auf Farbe nicht verzichten kann, sollte fürs Felsdebüt einen "Parcour" wählen. Dabei handelt es sich um meist 20 bis 50 in einer Farbe durchnummerierte Boulder mit ähnlichen Schwierigkeiten an einem Ort. Parcours gibt es inzwischen in einigen Bouldergebieten, ihren Ursprung haben sie in Fontainebleau. Dort steht weiß für kinderleicht und für knüppelhart. Keine Sorge, die können nicht verwechselt werden! Und dazwischen ist das Farbspektrum so kunterbunt wie in der Halle.