Richtig aufwärmen fürs Bouldern und Klettern

Verletzungsprävention
Richtig aufwärmen fürs Klettern

Inhalt von

Dieses Warmup fürs Bouldern und Klettern senkt das Verletzungsrisiko. Sein Erfinder erklärt, wie es funktioniert.

Aufwärmen Bouldern Klettern
Foto: Christian Seitz

Ein neues, standardisiertes Aufwärmprogramm halbiert das Verletzungsrisiko. Wir haben seinen Erfinder, den Sportmediziner und Kletterer Dr. Tyler Nelson befragt, wie es funktioniert. Weiter unten zeigen wir den ersten von sechs Aufwärmzirkeln (und ganz unten alle 6 als PDF zum Download).

Das Injury Prevention Programm erklärt von Dr. Tyler Nelson (a.k.a. Camp 4 Human Performance, C4HP)

Tyler, wozu dient das Injury Prevention Program (IPP)?

Es ist ein Aufwärmprogramm, das mit minimalem Equipment überall funktioniert. Dazu kommt der Effekt, dass es vor Verletzungen schützt. Wir wissen von vergleichbaren IPPs im Fußball wie etwa dem FIFA11+, dass diese Programme das Verletzungsrisiko ungefähr halbieren. Das ist nicht perfekt, aber deutlich besser als nichts.

Wo liegt der Vorteil zum herkömmlichen Aufwärmen, bei dem man sich leicht einklettert und dann die Schwierigkeit steigert?

Es reduziert unnötigen Umfang, der den Körper strapaziert. Die Gesamtzeit, die wir an der Wand verbringen, ist der wichtigste Risikofaktor für Verletzungen, sowohl für junge als auch für erwachsene Athleten. Das liegt an der repetitiven Natur des Kletterns mit seinen vielen Bewegungen in verschiedenen Intensitäten, Geschwindigkeiten und Richtungen. Das Aufwärmen gründlich und dabei so kurz und effektiv wie möglich zu halten, erlaubt uns mehr Zeit und Energie ins tatsächliche Training und das Klettern an der Leistungsgrenze zu stecken. Die Forschung hat gezeigt, dass die Ausübung eines Sports risikoreicher ist als Krafttraining. Dazu ist es für viele Kletterer eine Zeitfrage. Die meisten Kletterer verbringen die ersten 45 Minuten ihrer zwei oder drei Kletterstunden damit, langsam die Intensität hochzufahren, und das bereits bei voller Beanspruchung der Finger. Dabei muss man sehen, dass wir nur soundso oft greifen und die Finger verdrehen können, bevor das Verletzungsrisiko steigt. Im Prinzip ist es also eine Methode, die Gesamtbelastung auf die Finger zu reduzieren.

Systematisch aufwärmen fürs Bouldern und Klettern
Christian Seitz
Die erste Übung des ersten Zirkels: Statisch hängen, die Arme im 90-Grad-Winkel gebeugt. 3 mal 5 Sekunden halten, dazwischen 3 Sekunden Pause. Machbar an der Stange oder großen Griffen an der Kletterwand. Fokus auf Brust, Rücken und Rumpfspannung. Leichter wird es, wenn man die Füße am Boden lässt.
Wie funktioniert das IPP?

Im Fußball gib es mehrere IPPs, die eine vergleichbare Effizienz bei der Verletzungsprävention aufweisen. Weil die Programme sich voneinander unterscheiden, wissen wir noch nicht wirklich, warum genau sie Verletzungen verhindern. Allerdings gibt es einige Gemeinsamkeiten (siehe unten). Ein Faktor ist wohl, dass eine Belastung, die ein bisschen intensiver ist als im Sport selbst, einen schützenden Effekt mitbringt.

Wer profitiert von dem Programm neben der Wettkampfjugend?

Alle, die sich effizient aufwärmen wollen und ein Interesse daran haben, die Belastung dabei im Rahmen zu halten. Am wenigsten vermutlich Anfänger, denen es nützt, möglichst viele verschiedene Bewegungsmuster zu sammeln und aus den verschiedenen Facetten des Kletterns lernen. Möglicherweise gefällt es Leuten auch, leicht zu starten und nach und nach die Schwierigkeit zu steigern. Wenn man einfach nur klettern und Spaß haben will und ohne Zeitlimit irgendwann erschöpft nach Hause gehen will, okay. Das ist zwar nicht, was die meisten wollen, aber was die meisten machen. Nur ist das keine effiziente Nutzung von Zeit und Ressourcen.

Freizeit muss man ja nicht unbedingt auf Effizienz trimmen...

Das stimmt. Die andere Perspektive ist allerdings, dass Krafttraining nützlich ist, was die Verletzungsprävention angeht. Für Menschen, die am Training keinen Spaß haben, ist das Warmup ein guter Zeitpunkt, um es einzubauen. Wer Klimmzüge, Bankdrücken und Co nicht gern von sich aus macht, profitiert von dem schützenden Effekt der Krafttrainingsimpulse des IPP.

Das IPP ist teils schon etwas anstrengend...

Zu Beginn fühlt es sich anstrengend an, aber man gewöhnt sich schnell daran und sieht auch schnell den Nutzen.

Aufwärmen Bouldern Klettern
Christian Seitz
Übung aus dem zweiten IPP-Zirkel: statische Schulterrotation. Suche dir einen festen Widerstand (im Bild der Holzbalken) und drücke mit der Außen- und Innenseite der Hand sechs mal für jeweils sieben Sekunden dagegen. Steigere die Intensität über die Wiederholungen. Ellbogen dabei nah am Körper halten. Diese Übung ist die statische Version der Gummibandübung, die gern zum Aufwärmen gemacht wird. Da die Intensität besser steuerbar ist als mit dem Gummiband, ist sie etwas überlegen.
Man wird also stärker?

Genau. Und heutzutage gibt es ja viele große und unförmige Griffe in der Halle, die für die Fingerkraft keinen guten Trainingsreiz mehr bieten. Das IPP umfasst deshalb auch etwas Fingertraining, was für die meisten vollkommen ausreicht, um stärker zu werden. Selbst wenn man mit einer Intensität von 6 oder 7 von 10 arbeitet. So überbrückt man geschickt die Lücke zwischen Klettern an großen Volumen und Riesengriffen hin zum hart Ballern für den nächsten Grad.

Ungewohnt ist, mit statischen Übungen anzufangen.

Für Ellbogen und Schultergewebe und vor allem für die Sehnen ist statisches Halten anfangs deutlich besser. Und die Finger wärmt es auch schonender auf, als an Griffen zu ziehen. Gerade bei Ellbogenproblemen sind isometrische Übungen gut.

Muss ich immer alle sechs Zirkel des IPP machen?

Nein. Es lässt sich individuell anpassen. Ich habe versucht, das IPP sehr vollständig zu erstellen, und es richtet sich an Jugendliche, die im Wettkampf an den Start gehen und auf alles gefasst sein müssen. Zirkel 5 und 6 sind zur Vorbereitung auf moderne dynamische Wettkampfkletterei gedacht, das brauchen die meisten Kletterer nicht. Zirkel 1 bis 3 sowie der Fingerpart aus Nummer 4 sind ein guter Anfang. Man kann es sich auch komplett individuell zusammenstellen, solange es Oberkörper, Unterkörper, Drücken, Ziehen, Knöchel und Finger mit Progression umfasst. Hauptsache, es fängt an mit mehr Intensität als Klettern und bewegt sich hin zu mehr Geschwindigkeit als Klettern. Nach einem intensiven Zustieg könnte man auch den Unterkörper-Teil weglassen. Wobei es abwechselnd aufgebaut ist, je eine Übung für den Oberkörper und eine für den Unterkörper, damit man immer eine Pause hat und trotzdem keinen Leerlauf.

Erst intensiv, dann schnell?

Ja. Der erste Zirkel sollte recht anstrengend sein, also sich ungefähr wie eine 7 von 10 anfühlen. Dann werden die nachfolgenden Zirkel etwas weniger intensiv, die letzten liegen dann ungefähr bei der Intensität einer 4 von 10.

IPP von Dr. Tyler Nelson
Christian Seitz
Einbeinige Kniebeugen in exzentrischer (hinsetzen) und auch konzentrischer (wieder aufstehen) Richtung kommen ebenfalls im zweiten Zirkel des IPP vor.

Der erste Zirkel des IPP-Aufwärmprogramms

Hier zeigen wir den ersten Zirkel des von Tyler Nelson entwickelten Aufwärm- und Verletzungspräventionsprogramms. Es wechselt zwischen Oberkörper und Unterkörperübungen und bereitet auf höhere Belastungen vor.

Die Prinzipien des IPP

Diese Komponenten sind nötig, um optimale Leistungsbereitschaft zu erlangen und dabei die Belastbarkeit des Körpers zu verbessern.

1. Kraftkomponente Der Fokus liegt auf der Krafterzeugung. Erhöhte Kraftproduktion erfordert langsame und kontrollierte Bewegung.
2. Balancekomponente Zielt ab auf die Rumpfmuskulatur, um die Bewegungseffizienz von Core und Extremitäten zu verbessern und zu koordinieren. Um die Balance zu verbessern, müssen verschiedene Bewegungsgeschwindigkeiten genutzt werden.
3. Beweglichkeitskomponente Hier soll der Bewegungsumfang vergrößert werden – ohne statisch zu dehnen, was die Krafterzeugung reduziert.
4. Mobilitätskomponente Dabei geht es darum, sich in unterschiedlichen Geschwindigkeiten in verschiedenste Richtungen zu bewegen, auch mit kontrolliert nachgebenden, verzögernden Bewegungen.
5. Plyometriekomponente Soll die volle Bereitschaft für den Einsatz herstellen, also die Fähigkeit, Kräfte abzufangen, gegenläufige Bewegungen schnell einzuleiten, und die Richtung von Kräften zügig umzuleiten.

Alle 6 Zirkel des IPP von Dr. Tyler Nelson / C4HP zum Download

Mehr: