Wie Atmen das Klettern beeinflusst
Durch den unteren Teil ihres Projekts Pfauenauge (8-) kletterte Ivy zielstrebig und effizient. Mit jedem Meter, den sie an Höhe gewann, strengte sie sich mehr an. Sie atmete durch den Mund. Je näher sie der Schlüsselstelle kam, dem weiten Zug, desto lauter und aufgeregter wurden ihre Atmung. Sie setzte an – und fiel ins Seil, wie schon die anderen drei Male vorher. Enttäuscht zog sie an und kletterte die Route fast gelangweilt zu Ende.
Langsam wurde es mental anspruchsvoll, Zweifel breitete sich in Ivys Kopf aus. Warum wollte der Durchstieg nicht gelingen, wenn doch die Züge einzeln kein Problem waren? Beim nächsten Go mischte ich mich ungefragt ein: "Ivy, versuch mal, durch die Nase zu atmen." Dieses Mal hörte man Ivys Atem nicht so laut. Und sie stieg das Pfauenauge einfach durch.
Der irische Atemspezialist Patrick McKeown ist meiner Meinung: "Mundatmung ist für Notfälle." Dabei könnte man eigentlich annehmen, dass über den Mund mehr Luft aufgenommen werden kann, was bei sportlichen Aktivitäten hilfreich wäre. Doch so einfach scheint die Lage nicht zu sein. Eins ist indes klar: Mit der Art und Weise, wie wir atmen, geht mehr einher als die optimale Sauerstoffsättigung des Bluts und damit der Voraussetzung für körperliche Leistung. Sich die Atmung optimal zunutze zu machen, kann das entscheidende Quäntchen sein, das den Durchstieg ermöglicht und generell unser Level verbessert.
Fataler Irrtum zur Sauerstoffversorgung
Wann immer es um die Atmung geht, geht es erst einmal um Sauerstoff. Im Zusammenhang mit Bewegung spielt der Sauerstoff eine entscheidende Rolle im Energiestoffwechsel: Wenn davon zu wenig in unseren Zellen ankommt, gerät die Energieversorgung der Muskulatur ins Stocken und die Energie muss umständlicher aus Glukose hergestellt werden (im Fachjargon: "anaerob"). Ausreichend Sauerstoff bedeutet also reibungsloses Funktionieren der Muskulatur. Der erste verbreitete Irrtum in dem Zusammenhang lautet, dass man mehr Luft aufnehmen muss, um die Sauerstoffversorgung zu verbessern. Denn aufnehmen tun wir davon generell genug: Die Atemluft besteht zu 21 Prozent aus Sauerstoff. Wir nehmen beim Atmen nur rund ein Viertel davon in unseren Körper auf. Wieso geraten wir also außer Puste, wenn wir uns anstrengen – als bräuchte unser Körper mehr Luft? Wieso nimmt unser Körper beim Atmen nicht einfach mehr Sauerstoff auf?
Die Rolle des Kohlendioxids
Der Grund dafür liegt in der limitierenden Wirkung des Kohlenstoffdioxids, das wir als Stoffwechselprodukt ausatmen. Dazu wissenswert: Der Lufthunger wird nicht vom Sauerstoffmangel ausgelöst, sondern ist die Reaktion des Körpers auf einen plötzlich erhöhten Kohlendioxidspiegel. Ein Anstieg des sogenannten Kohlendioxidpartialdrucks im Blut führt zu einem vermehrtem Atemantrieb und damit zur gesteigerten CO2-Abatmung: Wir schnaufen.
Der Knackpunkt: Die roten Blutkörperchen, die den Sauerstoff zu den Zellen transportieren, müssen Kohlendioxid abladen, um Sauerstoff binden und transportieren zu können. Wenn wenig Kohlendioxid im Blutkreislauf ist, kann auch nur wenig Sauerstoff transportiert werden. Letztlich sorgt daher ein höherer Kohlendioxidspiegel für eine bessere Sauerstoffversorgung, weil mehr Abgabe auch mehr Aufnahme ermöglicht.
So bekommen Muskeln, die bei körperlicher Betätigung stärker arbeiten, mehr Sauerstoff als andere, die weniger beansprucht werden. Sie produzieren mehr Kohlendioxid, das wiederum für mehr Sauerstoff sorgt, sozusagen als Lieferung auf Nachfrage auf der molekularen Ebene.
Warum tief durchatmen ungünstig ist
Wenn man den Erkenntnissen von James Nestor glaubt, wie er sie in seinem Buch Atem darlegt, dann ist der Rat, tief durchzuatmen, deshalb kontraproduktiv. Denn beim (zu) tiefen Atmen entsorgen wir viel Kohlendioxid. Der Kohlendioxidspiegel im Blut sinkt, damit kann auch nicht mehr so viel Sauerstoff transportiert werden. Deshalb plädieren Nestor und auch McKeown dafür, so langsam durch die Nase zu atmen wie möglich – gerade während sportlicher Aktivität.
Durch die Nase atmen
Nasenatmung trainiere den Körper, mit mehr Kohlendioxid klarzukommen (= später außer Atem zu kommen) und damit mehr Sauerstofftransport zu ermöglichen. Ergo: Langsamer atmen ist besser. Beim automatisch langsameren Atmen durch die Nase können die Lungen mehr Sauerstoff aus der Luft extrahieren, weil mehr Zeit für den Austausch bleibt. Atemtrainer McKeown zufolge sei Nasenatmung die Standardlösung unserer Spezies: Dabei wird die Atemluft angewärmt und befeuchtet, über die Nasennebenhöhlen wird der für den Kreislauf wichtige Stickstoff aus den Nasennebenhöhlen der Atemluft hinzugefügt. Mittlerweile ist belegt: Bei Nasenatmung synchronisiert sich der Rhythmus von Gehirnwellen und Atmung. Einatmend verbessert sich das räumliche Vorstellungsvermögen, wir können die Gefühlsausdrücke schneller erfassen und das Gedächtnis arbeitet besser. Die Ausatmung wiederum verbessert die Vorbereitung auf Aktivität.
Atmung als Botschaft ans Gehirn
Dass die Atmung beim Klettern weit mehr kann, als mich mit Sauerstoff zu versorgen, stellte ich vor ein paar Jahren am eigenen Leib fest. Ich war mit neuen Kletterpartnern in der Halle, stand bereits eingebunden und startklar am Einstieg einer mittelschweren Aufwärmtour, als ich bemerkte, dass mein Chalkbag noch in meinem Rucksack war. Bei den leichteren Warmups nutzte ich Chalk selten, jetzt im mittelschweren Bereich hätte ich es eigentlich gern gehabt, aber ich wollte meine neuen Spielgefährten nicht warten lassen und beschloss, die Route eben so zu klettern, dass ich nicht zu arg ins Schwitzen geriet. Die Züge waren mir bekannt, ich wählte also ein gemessenes Tempo und achtete beim Klettern hauptsächlich darauf, nicht zu sehr in Wallung zu geraten, damit meine Hände möglichst wenig schwitzten. Intuitiv atmete ich so ruhig und entspannt wie möglich und sendete mit jedem Atemzug ein "gaaanz ruhig"-Signal an meinen Körper. Das Klettergefühl war recht anders als sonst, und als ich – ohne Schwitzehände – am Umlenker ankam, war vom üblichen schweren Atmen keine Spur. Nie zuvor war ich so relaxed und mühelos geklettert. Zugegeben, aufgewärmt hatte mich dieses Vorgehen nicht. Aber diese Erfahrung war eine Entdeckung. Die machte der italienische Neurowissenschaftler Maurizio Balestrino 1988: "Über die Atmung kontrolliert unser Gehirn seine eigene Erregbarkeit", stellte er fest. Die US-Psychiaterin und Yogalehrerin Ellen Vora formuliert es so: "Atme wie eine entspannte Person, und dein Körper wird dem Gehirn mitteilen, dass du entspannt bist". Das beschreibt meinen Aha-Moment an der Wand ziemlich exakt. In der Folge lernte ich, wie bewusst entspanntes, "gemütliches" Atmen mir an Ruhepunkten half, den Puls runterzubringen oder beim Onsightklettern, Ruhe zu bewahren und den Überblick zu behalten. Das Gegenteil, Luft anhalten, signalisiert dem Nervensystem Stress.
Zugang zum vegetativen Nervensystem
So gibt der Atem im Körper den Takt an. Das ist wortwörtlich zu nehmen: Bei der Einatmung beschleunigt sich unser Herzschlag, beim Ausatmen verlangsamt er sich. Diese Art von Yin und Yang der Atmung wirkt umfassend auf unser vegetatives Nervensystem. Und zwar nicht auf einer Einbahnstraße: Die US-Atemspezialistin und Autorin von Richtig Atmen für Sportliche Höchstleistung, Dr. Belisa Vranich, erklärt: "Stimmung beeinflusst das Atmen und Atmen beeinflusst die Stimmung".
Das ist nicht banal, denn ansonsten haben wir kaum eine so direkte Möglichkeit, gezielt auf unser inneres Regularium zuzugreifen. Über die Atmung können wir direkt beeinflussen, ob wir eher entspannt oder eher angespannt sind. Wenn wir bewusst die Ausatmung verlängern, dann sprechen wir damit den Parasympathikus an, also einen der zwei Hauptnerven. Er sendet Entspannungssignale an unser physiologisches System. Er senkt den Puls, erlaubt Verdauungsprozesse, und fördert insgesamt die Erholung. Sein Gegenspieler, der Sympathikus, steht im Zeichen von Fight or Flight: Stresshormone wie Cortisol und Adrenalin werden ausgeschüttet, die Muskulatur wird stärker durchblutet, die Verdauung gehemmt: Wir sind aktiviert, der Säbelzahntiger kann kommen.
James Nestor empfiehlt, sich eher im vom Parasymphatikus dominierten Rest and Digest-Modus aufzuhalten: "Der Mensch ist aufgrund seiner Evolution dafür gemacht, die meiste Zeit, wenn er wach ist – und die ganze Zeit, wenn er schläft –, in diesem Erholungs- und Entspannungszustand zu verbringen". Dabei erholt man sich übrigens am besten und optimiert damit das Ergebnis von Training.
Die Methode: "Je sanfter man einatmet und je länger man ausatmet, desto langsamer schlägt das Herz und desto ruhiger wird man". Beim Sport hingegen, beim Klettern sowieso, sind wir zumeist im hochaktiven Modus. Kein Wunder, dass uns beruhigende Atemmethoden dabei helfen, die goldene Mitte zu finden um konzentriert strategische Entscheidungen zu treffen und bei aller Anstrengung einen kühlen Kopf zu behalten.
Corepower durch Atmung
Doch nicht immer ist Ruhe der entscheidende Faktor. Wenn es etwa darum geht, bei maximalen Zügen die Körperspannung zu halten, spielt die Atmung eine andere Rolle. Beim Bouldern und bei schweren Kletterzügen müssen wir im Rumpf Spannung aufbauen. Dazu stabilisieren wir den Körper unter Zuhilfenahme eben jener Rumpfmuskeln, die auch für unsere Atmung zuständig sind (s. Grafik unten). Außerdem hilft der interne Luftdruck dabei, die Wirbelsäule von innen zu stabilisieren. Dabei die Luft anzuhalten, würde dem Nervensystem allerdings ein Stresssignal senden – daher empfiehlt Vranich, möglichst auch unter Spannung weiter zu atmen, wobei eine gebremste, kontrollierte Ausatmung die schwersten Bewegungen unterstützt. Gewichtheber beispielsweise atmen aus, wenn sie das Gewicht nach oben befördern.
Risiken und Nebenwirkungen der Pressatmung
Diese Form der Pressatmung birgt allerdings auch Risiken, steigt dabei doch der Blutdruck an, und damit der Druck auf die Gefäße und im Rumpf auch die Gefahr von Hernien (zum Beispiel Leistenbruch). Die gute Nachricht: Für gesunde Personen ist Pressatmung erst einmal nicht schädlich, wenn der interne Druck muskulär von allen Seiten gleichmäßig kontrolliert wird – auch von unten. Denn sonst besteht die Gefahr, auf lange Sicht die Ausscheidungsorgane zu schädigen, wenn der Druck im Rumpf nicht durch den Beckenboden stabilisiert wird. Dies lässt sich dies durch gezieltes Aktivieren der Beckenbodenmuskeln erreichen oder interessanterweise auch durch Lautäußerungen. Vielleicht ist es daher kein Zufall, dass Kampfsportler auf ritualisierte Schreie zurückgreifen. Dazu ist belegt, dass Karatekämpfer beim Kiai – dem traditionellen Karateschrei – signifikant mehr Kraft mobilisieren können als ohne Schrei. Vielleicht ist also ebenso kein Zufall, dass die Bruce Lees des Kletterns, Chris Sharma und Adam Ondra, recht erfolgreich ihre eigenen Kampfschreie einsetzen.
Doch ob mit Schrei oder ohne: gezieltes Ausatmen und gleichzeitige Aktivierung des Beckenbodens können die Kraftentwicklung und damit die Körperspannung gehörig verbessern. Kontrolliertes Pusten, wie viele Kletterer es beim Ausatmen nutzen, verbindet Rumpfaktivierung mit dem hilfreichen Beruhigungssignal fürs Nervensystem und verbindet den Spannungseffekt für den Rumpf mit dem Entspannungseffekt für den Kopf. So können wir also einerseits unser Kraftlevel und andererseits unseren mentalen Zustand regulieren. Kein Wunder, dass neben Allez! das Stichwort Atme! ein beliebter Anfeuerungsruf beim Klettern und Bouldern ist. Wobei es besser heißen sollte: Atme aus!
Mit diesen Muskeln solltest du atmen – und mit diesen nicht
Laut der Psychologin und Atemspezialistin Dr. Belisa Vranich atmen viele Menschen mit den falschen Muskeln. Im Überblick: Die ersten zwei Schemata zeigen die korrekte Atemmuskulatur. Das dritte Schema zeigt die Atemhilfsmuskulatur, die nicht hauptsächlich zur Atmung genutzt werden sollte.
Korrekte Atmung:
Falsche Atmung:
Die wichtigsten Tipps & Atemübungen fürs Klettern und Bouldern
- Probiere grundsätzlich, durch die Nase zu atmen. Je öfter und nachdrücklicher man übt, desto besser gewöhnt sich der Körper daran. Trainiere es.
- Atme sanft, besonders beim Routenklettern. Nutze zum Beispiel eine Route deines Aufwärmprogramms, um hauptsächlich deine Atmung zu beobachten.
- Unter Spannung: Versuche, weiter zu atmen und komplettes Luftanhalten zu vermeiden. Bei schweren Bewegungen hilft kontrolliertes, gebremstes Ausatmen dabei, die Spannung zu halten.
Pressatmung nur einsetzen, wenn reguläres Atmen nicht mehr möglich ist. Wenn der gesamte Rumpf angespannt ist, versuche auch die Beckenbodenmuskulatur aktiv zu halten, um keinen Schaden zu nehmen: Wie bei starkem Pusten oder Schreien die innere untere Rumpfmuskulatur aktivieren und nach innen ziehen.
Bei Atemübungen ist eine gerade Oberkörperhaltung hilfreich. Diese kann entweder im Liegen oder mit aufrechter Sitzhaltung (ohne Anlehnen) erreicht werden. Beim Anhalten des Atems oder Hinauszögern des Atemimpulses sanft vorgehen: Laute Atemgeräusche beim Wiedereinatmen zum Beispiel besser vermeiden, lieber kürzer starten. Zeiten nur gemächlich steigern, wenn die vorherigen Zeitspannen easy gehen. Video-Erklärungen dieser und weiterer Atemübungen unter www.klettern.de/atmen.
Übung: Resonanzatmung
Laut James Nestor "die einfachste Beruhigungsübung, die Herz, Lungen und Kreislauf in einen Zustand der Kohärenz versetzt, in dem die Systeme des Körpers mit größtmöglicher Effizienz arbeiten."
So geht‘s:
• Schultern und Bauch entspannen, ausatmen.
• 5 bis 6 Sekunden lang sanft einatmen und Bauch ausdehnen, während die Luft die unteren Lungenbereiche füllt.
• Ohne Pause genau so lang sanft ausatmen und Bauch wieder einziehen, während sich die Lungen leeren. Atme ohne Pause, es sollte sich wie ein Kreislauf anfühlen.
• Für fünf bis zehn Minuten durchführen.
Übung: Boxatmung
Nennt sich so, weil alle Teile gleich lang dauern: Einatmung, Atempause, Ausatmung, Atempause. Die Atempause nach der Ausatmung kann anfangs unangenehm sein. Steigere die Zeiten erst, wenn sich alle Phasen komfortabel anfühlen. Die Übung hat einen wachmachenden und konzentrationssteigernden Effekt.
So geht‘s:
• 5 Sekunden lang ausatmen.
• 5 Sekunden lang Luft anhalten.
• 5 Sekunden lang einatmen.
• 5 Sekunden lang Luft anhalten.
• Mindestens sechs Durchgänge oder drei bis fünf Minuten.
Fortgeschrittene Atemübungen
Diese Übungen sind schon etwas anspruchsvoller. Wenn dir schwindlig wird, beende die Übung und atme normal und ruhig weiter.
Tummo-inspiriert: Wim Hof-Atmung
Diese Atmung wirkt aktivierend und regt das Nervensystem an. Führe sie nur durch, wenn du gesund bist.
Pranayama: Kaphalabati
Julia bouldert seit einigen Jahren, hat ihr Herz allerdings auch dem Yoga verschrieben. Hier erklärt sie die sogenannte Feueratmung.
Atemtraining nach Buteyko: Kohlendioxidtoleranz verbessern
Bei diesen Atemübungen muss man sich ein bisschen zwingen, aber es ist wichtig, sich keine Gewalt anzutun. Gehe schrittweise vor und steigere dich langsam.