"Topkletterer beschäftigen sich ganz intensiv damit, wie sie jeden einzelnen Griff halten müssen. Da kommt es auf winzige Kleinigkeiten an, wo der kleine Finger liegt, ob der Daumen noch helfen kann, welcher Finger auf welcher Unebenheit Platz findet", erklärt der Klettertrainer Udo Neumann. Klar, wer an der Grenze des Menschenmöglichen operiert, muss den Fels oder das Plastik optimal nutzen. Da wir in gewisser Weise aber alle an der Grenze des Menschenmöglichen klettern – nämlich unseres persönlich Menschenmöglichen –, profitieren wir auf jedem Niveau davon, wenn wir die Griffe möglichst geschickt verwenden.
In der Fotostrecke oben haben wir die wichtigsten Grundregeln zusammengestellt, die helfen, Griffe besser und fingerschonender zu nutzen. Generell geht es darum, die vorhandene Grifffläche optimal zu belasten. In der Regel heißt das, dass so viele Finger wie möglich auf oder an den Griff kommen. Insbesondere beim Hallenklettern kann auch der Daumen fast immer irgendwie dazugenommen werden. Generell sollte man möglichst nicht zu hoch greifen. Denn wer beim Weitergreifen völlig überstreckt steht, riskiert, dass die Füße von den Tritten rutschen.
Optimale Kraftübertragung
Ob man einen Griff halten kann oder nicht, hängt zu einem großen Teil von der Fingerkraft, ganz stark aber auch von der Körperposition ab. Wer sich optimal bewegt und gut steht, nimmt viel Gewicht mit den Füßen weg und muss entsprechend weniger am Griff ziehen. Dann lassen sich mitunter Griffe halten, bei denen man zuerst gar keine Chance hatte. Der Boulderraum ist der richtige Ort, um den Einfluss der Körperposition auszuprobieren und kennenzulernen.
Weich greifen
Vor allem beim Routenklettern ist das sogenannte "weiche Greifen" wichtig. Es bedeutet, dass wir Griffe nur mit der minimal nötigen Kraft halten und nicht jeden Griff maximal zuknallen. Wer weich greift, klettert einfach lockerer und spart Kraft für die wirklich schwierigen Stellen.
Leisten richtig halten
Sind Leisten etwas hinterschnitten, lassen sie sich aus anatomischen Gründen am besten mit aufgestellten Fingern halten. Sind sie gerade oder abschüssig, bietet sich eine offenere Handhaltung mit hängenden Fingern an. Die optimale Griffhaltung ergibt sich aus der Kombination von persönlich bevorzugter Griffart und der jeweiligen Griffform. Der Beastmaker-Erfinder Ned Feehally erklärt, dass "Menschen mit besonders kurzen Zeigefingern lieber offene Griffpositionen anstelle des aufgestellten Griffs verwenden. Menschen mit einem im Vergleich zu den anderen Fingern kurzen kleinen Finger greifen dagegen oft lieber mit drei aufgestellten Fingern, da der kleine Finger Schwierigkeiten hat mitzuarbeiten". Sicherlich spielt auch die Gewöhnung (Training!) eine große Rolle.
Aufgestellte und offene Fingerposition
Besonders das voll aufgestellte "Crimpen" mit Daumeneinsatz oben drauf gilt als heikel, da hier die größte Belastung auf die Ringbänder kommt und der Griff daher als verletzungsanfällig gilt. Doch diese hohe punktuelle Belastung macht das Aufstellen auch zu einer effektiven Methode, da man die vorhandene Kraft sozusagen bündelt und dadurch kleine Griffe besser fixieren kann.
Der kanadische Kletterprofi Sean McColl erklärt: "Mir wurde früh beigebracht, mit hängenden Fingern zu klettern, was ich nun bei 90 Prozent der Griffe mache. Wenn ich mal eine Leiste zuballern muss, nutze ich die halb aufgestellte Griffhaltung. Physiologisch gesehen ist halb aufgestellt schwächer als voll aufgestellt. Weil ich allerdings seit meiner Jugend halb aufgestellt trainiere, wurde die Griffhaltung zu meiner stärksten. Der Vorteil von aufgestellten Fingern ist, dass man das Handgelenk freier bewegen kann und weiter durchblockieren kann, was einige Zentimeter mehr Reichweite bedeutet."
Fingerlöcher und was man dazu wissen muss
Besonders am Fels gilt es oft, die optimale Belastungsmethode für Fingerlöcher herauszufinden. Manchmal sind Löcher nicht unbedingt in die gewünschte Richtung gut zu halten, sondern man muss sie als Seit- oder Untergriff belasten, um möglichst viel aus ihnen zu machen. Nicht nur bei Leisten, auch beim Halten von Fingerlöchern gibt es verschiedene Methoden, und erneut treffen wir auf einen Trade-Off zwischen besserer Kraftübertragung versus weniger Verletzungsrisiko. Diesmal sind es dabei nicht die Ringbänder, die gefährdet sind (außer man stellt auch Löcher auf, pfui!) sondern in erster Linie die Lumbrikale Handmuskulatur und die Beugesehnen. (Das sind feine, kleine Muskelstränge, die sich in der Handfläche befinden und ähnlich einer Feder die Beugesehnen säumen. Dabei wäre die Beugesehne selbst sozusagen der Federkiel.)
Leider hat es die Evolution verpasst, das einzelne oder paarweise Verwenden der Finger mit größerer Belastung einzuplanen. Sehnen, Handmuskulatur und Faszien der Finger sind nämlich quer untereinander verwoben, sodass Scherkräfte zwischen einzelnen Fingern durchaus Schaden anrichten können, wenn zum Beispiel der Mittelfinger stark belastet wird, die restlichen Finger aber nicht. Auf der Haben-Seite steht allerdings, dass auch beim Einsatz von wenigen Fingern die Muskulatur der anderen teilweise mitarbeitet (siehe auch "Quadriga-Effekt" unten). Das kann zu erstaunlicher Kraftverfügbarkeit führen, aber auch zu Überlastungen von Gelenkkapseln und Co, die solch hohe Belastungen nicht gewohnt sind. Und dies ist auch schon das entscheidende Stichwort. Gewöhnung in maßvollen Schritten macht robust.
Wie immer gilt bei ungewöhnlichen Griffen oder Anforderungen, auf das Feedback des Körpers zu hören: Fühlt sich der Unterarm oder Finger nach dem mehrfachen Fingerloch-Gezerre komisch an? Dann heißt es sofort aufhören – lieber eine Session früher beenden als eine Verletzung kassieren.
Der Quadriga-Effekt
Optimale Kraftübertragung versus weniger Verletzungsgefahr: Ein kleiner Unterschied kurz erklärt.
5 Tipps: Fingerverletzungen vermeiden
Auch das Gegenteil von Greifen ist manchmal nötig: Beim Bouldern am Limit oder wenn die Füße rutschen, sollte man auch mal loslassen können, um Verletzungen vorzubeugen.
Hier geben wir einige Tipps, wie ihr Verletzungen vorbeugen könnt:
1. Aufwärmen
Vor dem Bouldern oder Klettern ist es wichtig, die Finger gut aufzuwärmen. Dabei sollte die Belastung in kleinen Schritten zunehmen. Bevor man Vollgas gibt, sollte man circa 50 Züge pro Hand mit steigender Intensität absolviert haben. Auch nach einer längeren Pause ist ein nochmaliges kurzes Aufwärmen zu empfehlen.
2. Spitzenbelastungen vermeiden
Wenn es sich so anfühlt, als ob die Finger gleich brechen würden oder bereits schmerzen, ist dies ein Warnsignal. Extrem harte Züge sollte man nicht zu oft hintereinander probieren. Möglichkeiten zur Abhilfe: eine andere Körperposition ausprobieren, die mehr Entlastung für die Finger bietet; besser ausgeruht erneut versuchen; mehr Fingerkraft aufbauen; und im Zweifel auch mal passen. Besser nicht im ermüdeten Zustand Höchstleistungen von den Fingern erwarten.
3. Vorsicht Falle
Es gibt einige Situationen, die sehr verletzungsträchtig sind. Wenn einem zum Beispiel die Füße abrutschen und man instinktiv versucht, sich noch zu halten, können hohe Kräfte auf die Finger wirken. Abhilfe: loslassen üben. Ebenfalls hässlich sind enge Fingerlöcher oder Schlitze, in denen die Finger sich beim Rausziehen nach oben verkanten. Abhilfe: Finger bewusst erst herausziehen, dann Hand nach oben führen.
4. Auf Signale hören
Wenn sich im Finger Schmerzen bemerkbar machen, lohnt es sich, darauf zu hören. Im Zweifel sollte man pausieren. Was hilft, sind durchblutungsfördernde Maßnahmen (Massieren und Co.). Achtung: Pausieren muss nicht immer helfen. Wer die Finger nicht mehr belastet und weniger bewegt, wird nicht zwangsläufig schneller gesund. Dringend einen Arzt aufsuchen sollte man, wenn
– Fingerschmerzen stark sind;
– Fingerschmerzen nach einer Woche Pausieren nicht verschwunden sind;
– die Finger schmerzen, auch wenn man sie nicht belastet.
Wenn möglich, sollte man jemanden aufsuchen, der sich mit dem Klettern auskennt.
5. Geduld zeigen
Dieser Rat betrifft vor allem Anfänger und Trainingstiere. Denn jedes Mal, wenn man stärker wird oder die Belastungsintensität erhöht, passt sich die Muskulatur an. Muskeln wachsen und reagieren schnell, binnen Wochen. Doch Sehnen, Bänder und Gelenke brauchen zur Anpassung viel länger, nämlich Monate. Daher muss man aufpassen, wenn man einen Schub nach vorne tut, und dem Gelenkapparat Zeit zur Anpassung geben.
Warnung:
Viele Kletterer tapen sich die Finger, manche machen dies gewohnheitsmäßig. Das Tape kann – richtig eingesetzt – helfen. Doch sollte man mit Tape-Unterstützung sparsam umgehen, damit die Finger sich an die Belastung gewöhnen können (siehe Punkt 5).
Mehr: