Das Klettern im Onsight, also ohne Informationen über die Route, ist anspruchsvoll und fordert mentale, physische und taktische Entscheidungen beim Klettern. Es gibt kaum was besseres, als in unbekanntem, anspruchsvollen Gelände zu bestehen. Dabei gilt es, strategisch zu agieren und die Nerven zu behalten. Der britische Klettercoach Neil Gresham erklärt die wichtigsten strategischen Aspekte beim Onsighten.
Nichts verschenken: optimal Aufwärmen
Die meisten von uns wissen wie wichtig es ist, beim Aufwärmen schon eine gewisse Schwierigkeit zu klettern, damit wir danach nicht kläglich mit Kaltpump, also hoffnungslos aufgeblasenen Unterarmen, enden. Aber wie viele Routen sollte man machen? Das hängt vom Felscharakter, deiner Tagesform und weiteren Faktoren ab. Nach einer leichten Route solltest du ein oder zwei mittelschwere Routen ein oder zwei Grade unter deinem Onsightlevel machen, damit du gut aufgewärmt bist, bevor du einen schweren Onsight versuchst. Wähle wenn möglich unbekannte Routen zum Aufwärmen aus, um deine Routenlese-Fähigkeiten zu aktivieren. Mach eine längere Pause nach dem Aufwärmen, um jeglichen Pump wieder abzubauen. Wenn du länger als 30-45 Minuten pausierst, musst du dich eventuell kurz erneut aufwärmen.
Erst studieren, dann probieren: Routen lesen
Diese Taktik ist nicht nur in der Halle wichtig. Auch am Fels kann man eine Menge vorab erfahren, also schaue die Linie vom Boden aus gründlich und aus verschiedenen Perspektiven an. Versuche auch den oberen Teil anzusehen und Überhänge, ein Fernglas kann hier nützlich sein. Betrachte Sintersäulen von beiden Seiten und scanne nach Tickmarks oder Schuhabrieb. Je nach Felsfarbe sind diese mehr oder weniger sichtbar. Achte auf potenzielle Ruhepunkte, versuche schwere Passagen ausfindig zu machen, den genauen Verlauf der Route möglichst vorab zu erkennen – schlicht, sammle so viele Informationen wie möglich.
Pausiere mit Köpfchen: Ruhepunkte nutzen
Manchmal muss man die direkte Linie verlassen, um einen Ruhepunkt zu nutzen; daher verpassen viele Kletterer diese Gelegenheit. Versuche, die Hüfte nach innen zu lehnen, den Griff zu wechseln, Heel- oder Toehooks zu nutzen, Knie oder Hände zu verklemmen oder bei größeren Strukturen dich mit der Schulter oder den Beinen zu verspannen. Verlagere beim Schütteln soviel Gewicht wie möglich auf die Füße, lasse die Arme lang und entspanne den ganzen Körper. Wechsle die Füße, um die Waden zu entlasten und versuche größere Tritte mit der Ferse zu belasten. Ändere die Körperposition so, dass du beim Griffwechseln in Balance bleibst. Beobachte Atmung und Puls sowie die Milchsäure in deinen Unterarmen. Wenn alle so niedrig sind wie möglich, kann es weitergehen.
Ran an die heiße Kartoffel: Schlüsselstellen
Wenn du Schwierigkeiten dabei hast, eine Crux zu entziffern, kann es sinnvoll sein, zu einem Ruhepunkt zurückzuklettern. Wenn das nicht möglich ist, musst du es vielleicht riskieren und einfach etwas ausprobieren, bevor dich die Suche nach der perfekten Lösung erschöpft. Um Onsights am Limit zu klettern müssen wir oftmals unserer Intuition folgen, anstatt zu analytisch vorzugehen. Aber Achtung: Bei beliebten Routen kann es fatal sein, nach dem erstbesten Chalkflecken zu schnappen, da oft viele der angechalkten Griffe nutzlos sind. Je öfter du die Flucht nach vorn antrittst, desto größer wird deine Erfolgsquote werden.
Die ultimative Herausforderung: Cool bleiben!
Bis zum Ende die Nerven zu behalten gehört zu den wichtigsten Aspekten beim Onsighten. Erschöpfung und Adrenalin erzeugen eine Art Tunnelblick, denke daher daran, weit zu gucken. Atme gleichmäßig, um das Adrenalinlevel zu stabilisieren und den Pump zu minimieren. Wenn du einen guten Griff siehst, achte darauf zuerst die Füße zu setzen, bevor du den weiten Zug machst.
Misserfolg und Erfolg: Vermeide Ausreden
Beim Klettern an der Leistungsgrenze ist Scheitern unvermeidlich. Meist hört man aber mehr von den Erfolgen anderer als von ihren Fehlschlägen, was uns glauben machen kann, diese seien vermeidbar. Doch um einen neuen Grad zu erreichen, müssen wir zwangsläufig auch oft runterfallen, das sollten wir also einkalkulieren! Die Lösung ist, den ganzen Prozess als Lernen zu betrachten, nicht als einzelne Erfolge oder Misserfolge. Genieße jede Route und wachse mit der Erfahrung, dich außerhalb der Komfortzone zu bewegen. Es gibt immer eine weitere Chance. Vermeide auch, Routen für einen "besseren" Tag aufzusparen. Klar, wenn du völlig erschöpft bist, brauchst du nicht in dein bislang schwerstes Projekt einzusteigen; vermeide aber, Ausreden vorzuschieben, wenn du eigentlich gut drauf bist.
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