100 Jahre machen einen gewaltigen Unterschied: Der Klimawandel hat den Mer de Glace Gletscher am Mont Blanc stark gezeichnet.
Dr. Tobias Hipp: Wir stecken in einer "Gletscherkrise". Seit Jahrzehnten sind die Alpengletscher auf dem Rückzug, in Österreich im Schnitt um die 20 Meter pro Jahr. Die Temperatur in den Bergen steigt doppelt so schnell wie im globalen Mittel. Ende dieses Jahrhunderts wird es keine nennenswerten Gletscher mehr in den Ostalpen geben, nur noch Reste in den Höchstlagen der Ötztaler Alpen, Hohen Tauern und Stubaier Alpen. Das vergangene Jahr war schon beispielhaft, was auf die Alpen und uns zukommen wird. Der gesamte Verlauf war extrem. Der Winter war trocken, die Gletscher haben nur wenig Nachschub in Form von Schnee bekommen. Zudem verzeichneten wir in einem extrem heißen Sommer Rekordwerte. In dem Ausmaß ist das zunächst eine Ausnahme, aber ein eindeutiges Signal an uns.
Mit der aktuellen Klimapolitik steuern wir leider darauf zu, dass die Gletscher verloren gehen. Die Politiker müssten international schon drastische Maßnahmen ergreifen, um zumindest das Zwei-Grad-Ziel zu erreichen. Wahrscheinlich würde auch das unsere Gletscher in den Alpen nicht mehr retten.
Der jetzige Klimawandel ist menschengemacht und nicht das Ergebnis einer natürlichen, klimatischen Schwankung, darin ist sich die Wissenschaft schon lange einig. Die CO2-Emissionen sind viel höher als vor der Menschheit. So viel CO2 in der Atmosphäre hat es in den vergangenen 800.000 Jahren der Erdgeschichte nicht gegeben.Auch wenn wir jetzt von heute auf morgen alle CO2- Emissionen stoppen würden, könnten wir das CO2, das wir bisher emittiert haben, nicht mehr zurückholen. CO2 hat eine Verweildauer in der Atmosphäre von 50 Jahren. Wissenschaftler warnen schon seit Jahrzehnten vor den Folgen, präventiv passiert ist leider kaum etwas.
Besonders augenscheinlich sind die Veränderungen zum Beispiel an der Pasterze am Großglockner, dem mit acht Kilometern längsten Gletscher der Ostalpen. Die Pasterze hat in der Höhe eine große Eisfläche, die die Gletscherzunge mit Eis speist, dazwischen ist ein Steilabbruch. Diese Verbindung zwischen Eisplateau und Zunge könnte bald abschmelzen, bald kommt kein Nachschub mehr. Die Gletscherzunge der Pasterze dürfte bis 2050 fast völlig verschwunden sein. Beschleunigt wird das durch die Zunahme von dunklen Flächen auf dem Gletscher, verursacht durch Schutt, Schmutz, Phänomene wie Saharastaub oder Schmelztümpel. Diese Entwicklungen lassen sich auch an anderen Gletschern beobachten, zum Beispiel am Mer de Glace im Mont-Blanc-Massiv (siehe Video unten). In Deutschland haben wir noch insgesamt vier Gletscher. Erst im vergangenen Jahr verlor der Südliche Schneeferner an der Zugspitze seinen Status als Gletscher. Zurück bleiben in den bayerischen Alpen der Nördliche Schneeferner, der Höllentalferner, das Blaueis und der Watzmanngletscher.
Fast alle Gletscherskigebiete versuchen schon seit Jahren,Teile des Gletschers mit weißem Vlies abzudecken und ihn so vor der Sonneneinstrahlung zu schützen.Auch in niedrigen Lagen versucht man auf diese Weise, Schneedepots aus Altschnee zu errichten. Im Himalaja begann man, sogenannte Eis-Stupas, also künstliche Gletscher in Form eines buddhistischen Bauwerkes, aufzubauen. Sie sollen als Wasserspeicher fungieren. Solche Maßnahmen sind eher ein Tropfen auf den heißen Stein.
Die Bedingungen für den Bergsport verändern sich jetzt, das liegt nicht mehr in der Zukunft. Vor allem Hochtouren, also Bergtouren mit Gletscherkontakt,werden zunehmend gefährlicher, das spürt man jeden Sommer aufs Neue. Die Gletscher ziehen sich zurück, übrig bleiben große Schuttflächen, die das Resteis überdecken, genannt Toteisflächen. Diese Flächen sind ideales Ausgangsgebiet für Murgänge und Schlammlawinen. Randklüfte zwischen Gletscher und Fels werden größer, der Zugang zum Berg ist teilweise nicht mehr möglich, Gletscher werden spaltenreicher. Zudem geht der Permafrost, also Dauerfrostboden, zurück, der durch die hohen Temperaturen auftaut. Dadurch können sich ganze Bergflanken oder Schutthänge destabilisieren, die Steinschlaggefahr erhöht sich, Felsstürze werden häufiger. Eindrücklich war zum Beispiel der Absturz der Nordflanke des Piz Cengalo im schweizerischen Bondo 2017, bei dem acht Menschen ums Leben kamen. Aktuell droht ein Felssturz am Piz Buin, dem dritthöchsten Berg der Silvretta im Gebiet zwischen Österreich und der Schweiz. An dessen Ostflanke sind knapp eine Million Kubikmeter Fels in Bewegung, der Felssturz eine Zeitfrage.
Ja, das ist eine eindeutige Auswirkung des Klimawandels. Der Gletscher hat sich zurückgezogen, ist wegen der extremen Hitze im Sommer geschmolzen und dünner geworden. Das Schmelzwasser des Gletschers hat den sehr steilen Hängegletscher unterhöhlt, dieser Teil ist dann abgebrochen. Ein solches Event in der Dimension ist neu in den Alpen, aber so was bleibt bei uns kein Einzelfall.
Die Gletscher sind in allen Alpenländern gut überwacht. An Stellen, an denen man von einem Eis- oder Felssturz ausgehen kann, finden Messungen statt, sie werden teils durch Satelliten überwacht. Eine genaue Vorhersage bleibt schwierig bis unmöglich, selbst wenn man weiß, dass der Gletscher instabil ist. Pauschale Sperrungen von Gletschern oder Bergen sind schwierig umzusetzen. Im Gelände ist grundsätzlich jeder eigenverantwortlich unterwegs, man muss die alpinen Gefahren kennen und entsprechend handeln. In Einzelfällen wie zum Beispiel am Hochvogel im Allgäu kommt es zu Wegsperrungen. Der Gipfel des Hochvogels droht auseinanderzubrechen. Wann das sein wird, kann bisher niemand vorhersagen. Vorsicht ist geboten.
Wanderer haben den Vorteil, dass die Saison für sie länger wird. Auch höhere Gipfel werden für sie interessant, die ihnen aktuell wegen Schnee und Eis verwehrt bleiben. Dadurch nehmen auch für sie die alpinen Gefahren zu. Alpines Gelände erfordert eine spezielle Ausbildung und umfangreiches Wissen, um Gefahren zu erkennen und für sich minimieren zu können. Wanderer müssen sich nun auch mit schnellen Wetterwechseln, Extremwetter und Steinschlag auseinandersetzen, hinzu kommt die Höhe und die zunehmende Hitze, die sich negativ auf die Gesundheit und Kreislauf auswirken können.
Deutlich mehr Hütten als üblich hatten im vergangenen Sommer mit Wasserknappheit zu kämpfen. Da sollten wir uns alle fragen, wie viel Luxus wir am Berg brauchen. Müssen wir zum Beispiel auf einer Berghütte wirklich duschen? In Trockentälern wie dem Ötztal oder Vinschgau nimmt auch die Konkurrenz zwischen der Landwirtschaft, dem Tourismus und der privaten Wassernutzung zu. Gletscherflüsse wie die Ötztaler Ache bei Sölden werden im Sommer bis zu 80 Prozent aus der Schmelze gespeist. Wenn hier kein Nachschub mehr kommt, sieht es schlecht um den Wasserstand aus. Ein anderer Fall ist der Po, er entspringt im Piemont, ist aber nicht so stark von den Gletschern abhängig. Hier schlagen eher die Folgen der zunehmenden Hitze und fehlenden Niederschläge zu, was ebenso Auswirkungen des Klimawandels sind.
Schnee ist ein guter Klimaindikator, und leider sind auch hier die Prognosen nicht besonders gut. Die Schweiz liefert da gute Daten. Die winterliche Schneegrenze lag Ende des 19. Jahrhunderts bei 500 Metern, heute schon bei 800 Metern, Mitte des Jahrhunderts wird sie auf 1500 Meter ansteigen. Da sind die Prognosen eindeutig. In Tallagen wird es bis zu 80 Prozent weniger Schnee geben, in Mittellagen um die 2500 Meter werden 30 bis 50 Prozent weniger Schnee fallen. Im Allgemeinen nimmt die Schneedecke gravierend ab. Klagen kamen vor allem vom Tourismussektor.
Die Entwicklungen der vergangenen Jahre zeigen, dass weiße Weihnachten noch seltener werden und der Schneefall sich auf Februar und März verschiebt. Die Touristiker müssen Alternativen schaffen, auf andere Aktivitäten ausweichen. Aktuell wird die Grundlage für die Saison im Dezember mit Kunstschnee gelegt oder aus Schneedepots gespeist. Das klappt nur, weil es kalte Nächte im Dezember gibt. In diesem Winter war es im Verlauf dann aber so warm, dass der Schnee komplett weggeschmolzen ist. Das Fördern von Schneekanonen, Speicherteichen und des Ausbaus von Skigebieten in niedrigen und mittleren Lagen in den Alpen und Mittelgebirgen ist meines Erachtens nicht mehr zeitgemäß. Es braucht ein Umdenken in der Politik.
Wenn ich mein Patenkind so sehe, wie viel Spaß es hat, das Lachen im Gesicht bei der Bewegung draußen an der frischen Luft, dann wünsche ich mir, dass Kinder weiterhin Skifahren sollen. Das ist für mich als gebürtiger Münchner eine große Leidenschaft und wichtiger Bestandteil unserer Kultur in den Alpen. Es geht auch nicht darum, jemandem irgendetwas zu verbieten. Nur die Anspruchshaltung sollte sich ändern: Skifahren und Skitouren gehen eben nur dann, wenn es genügend Schnee hat. Wir sollten nicht mit allen Mitteln versuchen, die Pisten weiß zu halten.
Definitiv anders. Wie gesagt, werden wir das Element Gletscher in den Alpen verlieren. Für Bergsportler bedeutet das, dass sie ihre Hobbys an die veränderten Bedingungen anpassen müssen. In den Alpen erwarten uns aber zumindest keine Kriegszustände in Konkurrenz um Wasser und Lebensraum. Verwirrender ist die globale Situation, da stehen wir mit Themen wie Migration, Wasserknappheit und zunehmenden extremen Wetterphänomenen vor riesigen Herausforderungen. Entscheidend für uns alle ist die Entwicklung in der Arktis und Antarktis, wo sich riesige Eisflächen befinden. Wenn die abschmelzen, hat das schlimme Auswirkungen. Der Meeresspiegel steigt, die Erderwärmung wird beschleunigt, weil aus den weißen Flächen, die das Sonnenlicht reflektieren, dunkle Flächen werden, die das Licht absorbieren. Wir steuern global betrachtet auf einen sogenannten Tipping Point zu, an dem wir aktuell nicht genau wissen, was im globalen Klimasystem passieren wird. Für unsere Gletscher in den Alpen ist es aber leider schon zu spät.
Dr. Tobias Hipp
DAV-Gletscher-Experte Der Münchner und Bergsportler studierte Geografie, seine Doktorarbeit widmete er dem Thema Permafrost. Beim DAV (Deutscher Alpenverein) setzt er sich für den Erhalt der alpinen Natur und Landschaft ein.