Christine Thürmer: „Ich habe nur einen Chef, die Natur.“

Beruf: Wanderin
Christine Thürmer: „Ich habe nur einen Chef, die Natur.“

Bis 2004 hat Christine Thürmer Unternehmen saniert. Zwanzig Jahre später ist sie die meistgewanderte Frau der Welt. Ein Gespräch über Erdbeben und das Gehen als Lebensform.

Interview mit Christine Thürmer
Foto: Christian Biemann

Im Gespräch mit der "meistgewanderten Frau der Welt"

Bist du heute schon gewandert?

Christine Thürmer: Ja, natürlich! Ich bin gerade in Korea, war aber bis vor kurzem in Taiwan und heilfroh, dass ich da raus bin. Taiwan hat alles auf mich geschmissen, was es gab, zwei Taifune und das schlimmste Erdbeben, das die Insel seit 25 Jahren hatte. Die Nachbeben waren zermürbend, du musstest immer aufpassen, dass du nachts nicht unten an einem Steilhang liegst und dir ein Fels aufs Zelt fliegt.

Was machst du in Korea?

Ich bin auf Jeju Island, auch genannt das Hawaii Koreas, und wandere rund um die Insel, 400 Kilometer. Dann kommen Australien und Japan, insgesamt sieben Monate.

Interview mit Christine Thürmer
Jimmy Beunardeau

Straßenimbisse bieten in Asien Abwechslung zur monotonen Outdoor-Diät.

Insgesamt bist du jetzt bei 63 000 Wanderkilometern überall auf dem Globus, die meistgewanderte Frau der Welt. Was bedeutet dir das?

Ich bin ja eher der Typ gemütliche Hausfrau und alles andere als sportlich. Ich habe Plattfüße, X-Beine, zehn Kilo Übergewicht, trotzdem bin ich die meistgewanderte Frau der Welt. Und damit bin ich für viele Inspiration und Identifikationsfigur, vor allem Frauen.

Würdest du Wandern als deinen Beruf bezeichnen?

Ja, tatsächlich. Für die meisten ist Wandern eine Urlaubsangelegenheit. Aber wenn du mit dieser Urlaubseinstellung an einen der großen US-Trails gehst, den Pacific Crest Trail von Mexiko nach Kanada zum Beispiel, dann kannst du eigentlich nur scheitern. Weil: Die Frage ist nicht, ob es ein Problem geben wird auf so einer Tour, sondern wann, wie oft und welche. Wenn du aber sagst: Wandern ist mein neuer Job, und du hast mal eine Woche Regenwetter, dann denkst du: na ja, in meinem alten Job war auch nicht immer alles super. Du erwartest nicht, dass jeder Tag toll ist.

Du hattest ja früher einen sehr gut bezahlten Job mit Assistenz, Firmenwagen und so weiter. Heute schlägst du dich mit Erdbeben, Schlangen und Wassermangel herum. Warum ist das besser?

Wenn ich sage, ich erwarte nicht, dass jeder Tag toll wird, heißt das nicht, dass mein Job im Hamsterrad stattfindet. Mein Job ist meine Berufung, ich liebe ihn, aber ich sehe ihn als Arbeit. Es ist nicht immer toll, aufzustehen und 35 Kilometer zu laufen, in Hitze, Regen, Schnee. Ich habe auch meinen alten Job gern gemacht, und wenn Leute mir sagen: Ich halte es nicht mehr aus, ich muss wandern gehen, dann sage ich: Sucht euch doch erst mal einen neuen Job. Lauft nicht vor etwas weg.

Interview mit Christine Thürmer
Jimmy Beunardeau

Im Dschungel von Taiwan sank das Tagespensum von 35 auf 20 Kilometer.

Was bringt dich über die Härten beim Wandern?

Du kommst in den sogenannten Flow, das bedeutet, du hast eine selbstbestimmte Tätigkeit, die dich weder über- noch unterfordert. Die Betonung liegt auf selbstbestimmt. Ich kann seit 20 Jahren machen, was ich will, ich kann 35 Kilometer laufen oder 15, ein grandioses Gefühl der Freiheit. Ich habe nur einen Chef, das ist die Natur.

Du musst auch Geld verdienen.

Ich hatte früher wirklich ein sehr gutes Gehalt und mein zweites Hobby ist der Aktienmarkt. Dazu schreibe ich noch Bücher und halte Vorträge, aber das muss ich nicht. Ich wandere sechs bis acht Monate im Jahr, wenn ich in Deutschland bin, dann lebe ich in einer Plattenbauwohnung in Berlin-Marzahn, mit einer Miete von 285 Euro. Früher habe ich Unternehmen saniert. Da entscheidest du über Schicksale, über Millionenbeträge. Dann war ich plötzlich wandern, und die einzige Entscheidung, die ich da noch treffe, ist: Ess ich erst ein Mars oder ein Snickers?

Eine Unterforderung, oder?

Ich bin ja sehr neugierig. Als ich anfing zu wandern, hatte ich keine Ahnung davon. Aber die Lernkurve war steil, und nach einer Weile wusste ich, wie das alles geht, und mir fehlte die intellektuelle Challenge. Da habe ich mich hingesetzt und ein Buch geschrieben. Ich wollte wissen, ob ich einen Bestseller schreiben kann. Und das habe ich jetzt vier Mal gemacht, hat vier Mal geklappt. Das nächste, was ich machen wollte, waren die Shows, inzwischen fülle ich Hallen mit tausend Leuten.

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Privat

Hier sieht man sie auf dem Greater Patagonian Trail, einer unmarkierten Route bis hinunter nach Feuerland.

Wie hat das mit dem Wandern im großen Stil begonnen?

Als Managerin habe ich mal Yuppieurlaub in Kalifornien und auch einen Abstecher auf einen Zeltplatz in den Yosemite-Nationalpark gemacht. Wohl ausgerüstet mit Expeditionszelt und so weiter, was man halt so für viel Geld angedreht bekommt. Und da kamen die ersten Fernwanderer an, die Thru-Hiker, braungebrannt, zerlumpt. Die waren auf dem Pacific Crest Trail unterwegs und hatten nur winzige Rucksäcke und Planen statt Zelte fürs Cowboy-Camping. Die haben mein Bild vom Wandern auf den Kopf gestellt. Ich gehe also hin zu denen, nicht ahnend, dass ihre Antwort mein ganzes Leben verändern sollte: Wir wandern von Mexiko nach Kanada. Plötzlich diese Dimension, und dann haben die dieses Wahnsinnsglück ausgestrahlt. Das predige ich ja auch immer: Das Senken der Glücksschwelle, du reduzierst dich auf das totale Minimum, und so wird alles darüber zum Luxus.

Und dann?

Ich war 36, und da gibst du nicht einfach deinen Managerposten auf. Dann wurde ich am letzten Werktag vor Weihnachten gekündigt, kaum später hat ein gleichaltriger Freund einen Schlaganfall erlitten, irreparable Schäden. Da wurde mir klar, die wichtigste Ressource ist Zeit, nicht Geld. Und wenn du etwas wirklich machen willst, dann jetzt. Und ich habe mich auf den Pacific Crest Trail vorbereitet. Am 21.4.2004 bin ich gestartet.

Du hast mal gesagt, du suchst deine Ziele nach dem Devisenkurs aus. Welche Rolle spielt die Landschaft?

Viele Leute beurteilen meine Touren durch die Urlaubsbrille. Sie suchen beim Wandern einen Gegensatz zu ihrem Alltag, eine tolle, möglichst unberührte Landschaft, weil das was anderes ist als jeden Tag okay, aber für mich ist Wandern nicht Gegensatz, sondern Alltag. Ich sehe die ganze Zeit Landschaft, das ist wie für die meisten das Büro. Landschaft ist nur ein Faktor von vielen, ich bin so viele Berge hochgestiegen, irgendwann sieht jeder gleich aus. Eine klassische Landschaft, wie man sie in Outdoor-Magazinen findet, interessiert mich eher mäßig. Wenn ich nach Landschaft gehe, dann will ich ein ungewöhnliches Ökosystem, Sumpf, Wüste, Dschungel.

Und der Devisenkurs?

Ich sitze in meinem Plattenbau und gehe bei Lidl und Aldi einkaufen. Plane die nächsten Touren, schreibe die Bücher und halte Vorträge. Ich freue mich, wieder zu Hause zu sein, wo ich eine Dusche habe, einen Herd.

Wie hältst du Freundschaften und Beziehungen aufrecht, wenn du so lange weg bist?

Wie viele Leute kennst du, die du morgens um sechs anrufen und mit deinem Liebeskummer und Jobproblemen zutexten kannst? Bei mir klappt das. Die letzten Jahre war ich viel in Europa unterwegs und ich telefoniere unglaublich viel beim Wandern.

Du bist Sorgentelefon?

Du ahnst nicht, wie viele Kündigungsschreiben und Lebensläufe ich schon beim Wandern formuliert habe. Aber ich habe ja die Zeit, ich bin offen und ich freue mich über diesen ganzen Input.

Wird es auf einem langen Trail langweilig?

Wandern hat ja den Vorteil, dass du alle Details wahrnimmst. Was es in Taiwan zum Beispiel an Natur, Kultur und Geschichte gibt, wusste ich vorher überhaupt nicht, jetzt kenne ich mich da blendend aus. Ich wollte auch mal in Belgien wandern und habe dann nichtsahnend einen Weg genommen, der dem Frontverlauf der Ardennenoffensive im Winter 44/45 folgt. Jetzt bin ich Expertin für die Ardennenoffensive.

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Jimmy Beunardeau

Die Tempel auf Taiwan haben praktischerweise Steckdosen zum Laden des Handys.

Du googelst die ganze Zeit beim Wandern?

Ich höre auch stundenlang Hörbücher und Podcasts. Da sagen dann immer alle, um Gottes Willen, wie kannst du, du musst doch auf die röhrenden Hirsche hören und Pipapo. Ich höre aber röhrende Hirsche und Pipapo seit zwanzig Jahren. Ich liege dann im Zelt und denke: "Uoh, nicht schon wieder." Einmal bin ich durch Florida gewandert, und auf meiner Speicherkarte war nur noch das Nibelungenlied übrig, "in Mittelhochdeutsch mit neuhochdeutscher Übersetzung, kommentiert von Peter Wapnewski".

Und das kannst du jetzt auswendig herbeten?

Quasi. Ich dachte, so ein Scheiß, aber ich habe es gehört, ich taperte durch Sümpfe, Alligatoren am Weg, und bei mir Siegfried und das Drachenblut. Und ich sage dir, das war spannend. Als ich nach Deutschland kam, habe ich mir das gleich im Theater angekuckt. Ich kann mich für eine ganze Menge interessieren.

Wünscht du dir manchmal, schon früher mit dem Wandern begonnen zu haben?

Nein. Ich habe gerade in den USA schon viele gestrandete Existenzen erlebt. Die kommen nach der Uni oder Ausbildung auf den Trichter, dass Wandern toll ist, und geraten dann in einen Teufelskreis: Sommer wandern, Winter kellnern oder Skilehrer. Das ist Anfang zwanzig noch toll, aber nicht mehr mit Ende dreißig, und irgendwann ist der Karrierezug abgefahren.

Also erst in der Rente anfangen?

Nein, aber überleg dir gut, was du machst, wenn dir das Fernwandern gefällt, denn du wirst für bestimmte Sachen inkompatibel. Das Wandern wir deine Anschauungen verändern. Wenn du einmal feststellst, dass du in einem Zelt für zehn Euro am Tag und Tütengerichten unheimlich glücklich sein kannst, dann bist du verloren für Karrierejobs. Und du wirst diese Sehnsucht nach Freiheit nie mehr rauskriegen. Das ist natürlich doof, wenn du beispielsweise eine Freundin hast, die fünf Kinder haben will.

Wie lange wirst du noch wandern?

Der Altersrekord auf dem Appalachian Trail liegt bei 83. Ich bin jetzt 56, da würde ich sagen, ich habe noch dreißig gute Jahre vor mir.

Mehr über Christine Thürmer

Die Liebe zum Wandern hat sie erst spät entdeckt. Ihr Vater ging noch mit Gamsbartshut und Haferlschuhen auf Tour. "Ich fand diese Ausflüge immer schrecklich", sagt Christine Thürmer (57). Auf den Geschmack am Wandern kam sie erst mit 36. Vorher hat sie Werbekommunikation studiert und als Managerin Karriere gemacht. Sie lebt in Berlin.

Interview mit Christine Thürmer
Christine Thürmer

Inzwischen ist sie quasi schon überall zu Fuß gewesen, meist ultralight und mit Zelt, und entdeckt doch immer wieder neue, spannende Winkel, auch dort, wo man sie nicht vermuten würde – nachzuhören hier:

Podcast-Folge mit Christine Thürmer

Derzeit (2024) reist und wandert Christine Thürmer durch Taiwan, Korea, Japan und Australien. Vom 27.10.24 an geht sie auf Vortragstournee zwischen Bad Tölz und Oldenburg. Termine: christinethuermer.de