Das Tessin ist ein Paradies für Outdoor-Aktivitäten: Wiesen, wilde Bäche und Gletscher mit beeindruckenden Panoramablicken reihen sich aneinander und bescheren Wanderern auf über 4000 Kilometern ein Trekking-Mekka. Für Reiseautorin Uta de Monte ging es ins Valle di Lodano, ein Seitental des Vallemaggia.
Empfehlenswerte Touren im Valle di Lodano
1. Bergwanderung zur Alpe Canaa
Auf schmalen Pfaden führt diese zweitägige Bergwanderung von Lodano durch das Reservat der geschützten Buchenwälder des Valle di Lodano bis zu den oberen Weidegebieten der ehemaligen Alpen. Auf dem steilen Aufstieg zur Alp di Pii folgt man dem Weg der Transhumanz, den früher die Älpler-Familien mit ihrem Vieh benutzten. Die Alp da Canaa dient heute als Selbstversorgerhütte und markiert den Mittelpunkt der Rundwanderung. Der Abstieg führt am zweiten Tag auf der Gegenseite durch Lärchenwälder, über teils steile und weitgreifende Treppenstufen und schließlich auf breiten, schattigen Wegen nach Lodano zurück. Optional: Abstecher von der Hütte auf den Pizzo Cramalina (2322 m), den man am (frühen) Morgen des zweiten Tages einbauen kann. Der obere Teil dieses Weges erfordert Trittsicherheit und Schwindelfreiheit. Das letzte Stück führt über den Bergrücken mit kargen Felsen bis zum traumhaften Aussichtsgipfel.
2. Runde über Soláda und Castéll
Die einfache Wanderung bringt Wanderer auf gut markierten und breiten Waldwegen direkt in die Historie des Valle di Lodano und zu den Zeitzeugen der Waldnutzung. Gut erhaltene Maiensäße schmücken die Route. Mehrere schöne Aussichtspunkte eröffnen eine weite Sicht auf die Flusslandschaft der Maggia und auf abgelegene Ecken des Valle di Lodano. Der Infopoint Lodano hält eine Wanderkarte mit eingezeichneten Sehenswürdigkeiten bereit.
3. Via Alta Vallemaggia (Nord und Süd)
Der Weitwanderweg Via Alta Vallemaggia umrundet seit 2021 vollständig das Maggiatal und führt durch die Berge, die es vom Verzascatal trennen. Übernachtet wird meist auf Berghütten, aber auch in den Talorten. Mit ihren zwei Varianten im Norden kommt die Route auf insgesamt 200 Kilometer. Beide Alternativen folgen weiß-roten Bergwanderwegen (meist T4), einzelne Abschnitte verlaufen aber auch auf mit Schwierigkeitsgrad bis T5- (weglos, Kletterstellen) ausgezeichneten Strecken. Wer im Lodano-Tal in die Langstrecke hineinschnuppern will, sollte die letzten drei Etappen angehen: Auf Etappe 15, zwischen Alzasca und Canaa, wandert man über den Gebirgskamm zur Alp da Canaa. Etappe 16 führt nach Salmone und Etappe 17 nach Ponte Brolla ins Tal.
Tipps für die Planung eurer Reise ins Tessin
- Hinkommen: Mit dem Auto über Luzern durch den Gotthardtunnel oder an Chur vorbei über den San-Bernardino- Pass. Fernbusse von Deutschland fahren beispielsweise bis Bellinzona. Von dort geht es gut mit dem ÖV weiter. busliniensuche.de, postauto.ch, sbb.ch
- Rumkommen: Alle Übernachtungsgäste erhalten im Tessin das Ticino Ticket: Es ermöglicht die freie Nutzung des öffentlichen Verkehrs und verhilft zu zahlreichen Vergünstigungen bei Bergbahnen, auf Schifffahrten und auf den Eintritt zu den kulturellen Einrichtungen.
- App und down: Hike Ticino ist eine kostenlose App für das hervorragend ausgebaute und vielseitige Wanderwegenetz im Tessin. Die App von schweizmobil. ch stellt detailliertes Kartenmaterial aller ausgeschilderten Wege für Wandernde und Radelnde bereit.
- Unter guter Führung: Luca Goldhorn ist der offizielle Wanderleiter für das Valle di Lodano und absoluter Lokalexperte. Tel. 00 41/79/5 86 14 98, valledilodano. ch, exploreticino.ch
Unterkünfte
- Auf der Lodano-Runde: Die kleine, modern eingerichtete Selbstversorgerhütte Capanna Alp da Canaa auf 1843 Metern teilt die Lodano-Runde in zwei Etappen. 16 Betten im Matratzenlager, zusätzlich gibt es ein bis zwei fest aufgebaute Zelte vor der Hütte. 25 Euro/ Nacht; Bezahlung per Einwurf auf der Hütte. Bier, Wein, Nudeln und Reis ebenfalls gegen Einwurf auf Vertrauensbasis erhältlich. Reservierung über die Destination nötig: Tel. 00 41/79/ 5 13 02 34, canaa@valledilodano.ch, valledilodano.ch
- Authentisch in Lodano: Die Gästezimmer und Suiten des CaʼSerafina laden zu einem authentischen und entspannten Aufenthalt in Lodano ein. Es ist stilecht und doch bescheiden eingerichtet, wirkt hell und gemütlich. Ab 165 CHF (150 Euro) pro Doppelzimmer. CaʼSerafina, Rünch 1, CH-6677 Lodano, Tel. 00 41/91/ 7 56 50 60, caserafina.com
- Nachhaltige Nächte: Das ökologisch geführte Eco-Hotel Cristallina in Coglio (Maggiatal) verwöhnt Wandernde mit einer offenen und achtsamen Atmosphäre und mit großer Liebe zu Details. DZ ab 97 CHF (89 Euro). Restaurant Eco-Hotel, Tel. 00 41/91/7 53 11 41, hotel-cristallina.ch. Das Restaurant hat am Mittwoch Ruhetag.
Wenn der Magen knurrt
- Einfach gut: Wer Tessiner Küche sucht, ist in der traditionellen, aber mit modernem Stil geführten Osteria Cramalina in Lodano bestens bedient. Als Delikatesse gelten Capra bollita (Ziegensiedfleisch) und Cicitt (Ziegenbratwurst). Osteria Cramalina, CH-6687 Lodano, Tel. 00 41/91/ 2 25 60 20, osteriacramalina.ch (Montag/Dienstag Ruhetag)
- Alles hausgemacht: Klein und fein: Die Mannschaft der Osteria & Pizzeria Castello in Cevio bereitet hausgemachte lokale Spezialitäten frisch und mit viel Hingabe zu. Osteria Castello, Via Str. Vecchia 10, Tel. 00 41/91/7 54 11 65. Donnerstag ist Ruhetag.
- Wellness für den Gaumen: Regionaltypische Gerichte mit saisonalen Kreationen kommen im Ristorante La Sosta in Carona/Lugano auf den Tisch – am liebsten auf der lauschigen Terrasse oder im Garten des dazugeh.rigen Hotels. Hotel Villa Carona, Via Principale 53, Tel. 00 41/91/6 49 98 60, ristorantelasosta.ch. Das Haus hat am Mittwoch Ruhetag.
Die Tipps von Reiseautorin Uta de Monte
- Info-Zentrale: Im Dorf Lodano erfahren Wandernde am modernen Info-Point alles zu den Bergtouren, zur Historie der Region und zum Charakter der Landschaft. 15. M.rz–31. Oktober, täglich 8–18 Uhr.
- Tal-Leben: Im Vallemaggia, dem größten Tal im Tessin, haben sich die Menschen seit jeher den harten Bedingungen anpassen müssen. Das Museum in Cevio bietet Einblicke in ihr Leben. 1. April–31. Okt., museovalmaggia.ch
- Bade-Stopp: Maggia verfügt über einen Strand mit Kiosk, Liegestuhlverleih und Beachvolleyballfeld. In Lodano liegt der Strand unter der Brücke Ponte di Lodano. Weitere Stellen flussaufwärts bis Someo gelten als recht ruhig.
"Auf Wolke sieben" – die Reisestory aus dem Tessin
Er steht am Wegesrand und zieht eine Fratze. Die Augen liegen tief im faltigen Gesicht, die knorrige Nase ragt wie ein Ballon heraus, beide Nasenlöcher sind aufgeplustert. Schwulstige Lippen und zottelige, leuchtend grüne Haare – jahrzehntelang steht er schon so da, vielleicht sogar ein ganzes Jahrhundert. Und beäugt stoisch und stumm jeden der vorbeikommenden Wandernden. Das einen Meter große Gesicht mit Mooszotteln, das der knorrige Kastanienbaum formt, bringt unseren Wanderführer Luca Goldhorn zum Philosophieren: »Wer diesen Weg aufmerksam geht, wird lernen, die Natur wahrzunehmen – nicht nur, in ihr umherzuwandern«, belehrt uns der 60-jährige Tessiner in perfektem Deutsch und liebenswert- väterlicher Manier. Geht klar. Darum wollen wir, mein Wanderpartner Luigi und ich, uns auf der zweitägigen Hüttenwanderung durchs Valle di Lodano nach Leibeskräften bemühen, versprochen.
Natürlich ziehen längst nicht alle Kastanienbäume Fratzen. Ganz im Gegenteil: Die allermeisten von ihnen schauen lieb und nett und spenden im Sommer wohltuenden Schatten auf den steilen Wegen durch das Waldreservat. Die Buchenwälder im Valle di Lodano, einem Seitental des Maggiatals im Schweizer Kanton Tessin, stehen auf der Liste für eine Anerkennung als Welterbe der UNESCO. Dichte, Qualität und Ausgewogenheit von abgestorbenen und lebenden Buchen sind in diesem Tal weltweit herausragend. Sie machen die Wälder zum geheimnisvollen ebenso wie historisch faszinierenden Reservat, zu einer märchenhaften Welt. Ein Netz von Themenwegen entlang sanierter Steinhütten, ehemaliger Viehställe, wiederaufgebauter Steinmauern und eindrucksvoller Aussichtspunkte führt Wandernde heute durch das Gebiet. Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts lebten die Leute hier von Alpwirtschaft, Holzhandel und Holzkohleproduktion. Zahlreiche Familien der Region verbrachten Jahr für Jahr schweißtreibende und arbeitsintensive Monate in den Wäldern. Sie holzten große Baumbestände ab, transportierten die Stämme mühsam über Drahtseilkonstruktionen kilometerweit ins Tal hinunter und waren überregional für die hohe Qualität ihrer Holzkohle bekannt.
Mehrere hundert Köhlerstellen hat eine Interessengemeinschaft in den vergangenen Jahren kartografiert, einzelne davon auch exemplarisch wiederaufgebaut. Luca war ebenfalls in das Projekt involviert und hat selbst schon einen Holzhaufen gebaut und betreut: »Du musst beim Abbrennen genau auf die Farbe und Dichte des Rauches achten. Wenn er weiß ist, kannst du die Kohle schon fast nicht mehr retten – und die wochenlange Arbeit ist umsonst gewesen. « So einfach, so fatal. Auf unserer Rundtour häufen sich also nicht nur zahlreiche Höhenmeter innerhalb kurzer Strecke. Auch unser botanisches, geografisches und historisches Wissen mehrt sich dank Luca auf Schritt und Tritt. Als Lokalexperte gestaltet er uns die steilen Stunden als kurzweiligen Streifzug durch Natur und Historie und sensibilisiert unsere Sinne: »Je farbiger die Flechten auf den Steinen leuchten, desto besser ist die Luftqualität«, erwähnt Luca bei der nächsten Steinmauer im Vorbeigehen. »Und schaut hier: Die Dächer sind nicht bemoost – das heißt, auf dieser Höhe liegt im Winter immer noch Schnee«, erklärt der Unermüdliche, als wir den Weiler Sassalto (1182 m) durchqueren. Kurz vor der Alpe di Pii legen wir auf einer Bank im Schatten von Lärchen und neben einem kleinen Biotop die Rucksäcke ab und besteigen innerhalb von 15 Minuten den nahegelegenen Zucchero (1648 m). Der flache Gipfel schenkt einen schönen Blick über die weitgeschwungene Auenlandschaft des Maggiatals.
Unser Tagesziel ist die Hütte Alp da Canaa, auf gut 1800 Meter gelegen, direkt über der Baumgrenze und am Fuße des imposanten Pizzo Cramalina (2322 m). Die Canaa ist eine kleine, im Tessiner Stil gebaute, aber modern eingerichtete Selbstversorgerhütte, bietet 16 Schlafplätze und einen gut gefüllten Vorratsschrank, einen gemütlichen Kamin und eine solarbetriebene Warmwasserdusche. Sowie natürlich: beste Aussicht über das Valle di Lodano. Vom Küchenfenster aus bewundern wir den Cramalina im glühenden Abendrot. Er lugte schon beim Aufstieg zur Hütte immer mal wieder hinter dem Felsmassiv des Güi (2188 m) hervor und lockte uns bei kurzen Blicken, die wir auf den langgezogenen Grat mit runder Kuppe erhaschen konnten, zu einem ausgiebigen Abstecher.
Zugegeben, das juckt uns kräftig in den Füßen. Der Aufstieg wäre von der Hütte aus in einer fast dreistündigen Zusatzrunde gut machbar, erfordert etwas Schwindelfreiheit, gute Kondition und würde mit Sicherheit zum Höhepunkt unserer Lodano-Runde werden. Heute noch wollen wir entscheiden, ob das Wetter dafür passt und wir uns die zusätzlichen Höhenmeter am nächsten Morgen zutrauen. Zuvor aber zaubert uns Luca eine feine Überraschung auf den Tisch: Der Tessiner outet sich zu unserer Begeisterung als gelernter Koch, war früher für Gourmet-Restaurants in der Schweiz und über etliche Jahre hinweg in einem Tessiner Vier-Sterne-Resort tätig.
Heute schneidet und hackt er die Zwiebeln nur für uns, fischt getrocknete Steinpilze aus der Deckeltasche seines Rucksacks und berechnet die passende Menge Risotto für hungrige Mäuler. Die Lehrstunde am Kochtopf beginnt: «Risotto rühre ich nur mit einer Kelle aus Holz mit einem Loch darin, das ist erstens geschmacksneutral, zweitens macht es die Körner geschmeidiger und dadurch sogar geschmacksintensiver«, verrät Luca. Ein perfektes Risotto auf dem holzbefeuerten Herd der Alp da Canaa hinzubekommen sei zwar eher Gefühlssache. Aber genau darum gehe es ja schließlich beim Kochen: sich Zeit zu nehmen. Zwanzig Minuten später stoßen wir am langen Küchentisch auf die erste Tagesetappe an. Perfetto. Lucas Pilzrisotto ist erste Sahne und ein Schluck Rotwein aus dem Vorratsregal gibt den restlichen Schub: »Certo!«, wir sind uns einig: Die Schleife über den Pizzo Cramalina, die packen wir morgen doch mit links! Nach einer warmen Dusche kuscheln wir uns gleich ins Matratzenlager, stellen den Wecker auf 5 Uhr und treffen uns zum dampfenden Kaffee am Küchentisch wieder.
Mit leichtem Gepäck starten wir schon vor Sonnenaufgang und genießen die Einsamkeit und die klare Luft der Morgendämmerung. Eine Herde Schafe liegt verträumt am Wegesrand, nach etwa einer halben Stunde Anstieg führt uns eine aus Natursteinen gelegte Treppe zum ersten Sattel. Die Sonne erhebt sich über eine dichte Nebeldecke, die sich im Maggiatal um diese Uhrzeit noch breitmacht. Eine magische Atmosphäre umgibt uns, lässt uns auf Wolke sieben schweben. Wir fühlen uns privilegiert und wecken mit der Wahl des blauweiß-blau markierten Alpinweges, der hier am Sattel startet, unseren alpinen Entdeckergeist: Dieser Abschnitt wurde 2020 neu erschlossen und gehört zum Weitwanderweg Via Alta Vallemaggia, der 2021 um 9 Tagesetappen erweitert wird. Im Geist notieren wir uns: wiederkommen und richtig lang auf Tour gehen. Jungfräulich zeigt sich der Weg und sehr gut markiert. Es geht an Felsbrocken entlang quer über die steile, leicht begrünte Bergwand und schließlich auf den felsigen Grat zum Gipfel.
Leuchtendes Moos besprenkelt die hellen, etwa einen Meter langen Granitplatten – wir wissen Bescheid, die Luftqualität hier oben ist top. Die Sicht ebenfalls: Die Unendlichkeit der schneebedeckten Gipfel lacht uns in ihrer vollen Pracht entgegen. Vom Finsteraarhorn des Berner Oberlandes bis zur Dufourspitze im Wallis tummeln sich in unserem Blickfeld viele Schweizer Berge von Rang und Namen. Im Kontrast zur weichen und runden Bergwelt der Tessiner Alpen zeigen die Bünder Berge im Norden ein spitzes und scharfkantiges Profil. Im Süden winkt uns aus der Ferne der Tessiner Tiefebene sogar der Lago Maggiore zu. Wir schnaufen kräftig durch und holen Luft für den Abstieg. Denn der wird knackig: Von hier aus liegen rund 2000 Höhenmeter bis nach Lodano vor uns.
Zurück an der Alp da Canaa laden wir unser Gepäck auf, queren die oberen Lärchenwälder des Waldreservats bis zum Pass de la Bassa, steigen durch die Buchenwälder steil zur Alp da Tramón hinab, erreichen die Höhenlagen schattiger Kastanienhaine und freuen uns unbändig, als am späten Nachmittag endlich die Weinreben von Lodano in greifbare Nähe rücken. Geschafft, erledigt, aber glücklich. Ein Blick zurück bestätigt: Der Pizzo Cramalina wird seinem Namen in einem Tessiner Dialekt gerecht: Er ist das unverzichtbare »Sahnehäubchen« der Rundtour durchs Valle di Lodano.