Klettern in den Dolomiten

Klettern in den Dolomiten
Alpinklettern an Zinnen, Sella & Co: Abenteuer in den Dolomiten

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Kletterer, die brüchigen Fels und rostige Haken lieben, sind eher selten. Doch es gibt sie. Einer von ihnen machte sich auf in die Dolomiten, wo er das gelobte Land zu finden hoffte.

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Foto: Ralf Gantzhorn

Das soll also der gefürchtete Dolomiten-Bruch sein? Das sieht doch bombenfest aus! Und wieso steckt der erste Bohrhaken schon in drei Metern Höhe?" Mein Kletterpartner, Herr Gantzhorn, zeigt sich ob meiner enttäuschten Miene etwas ratlos: "Das ist die Super Tegolina (8-). Die hat im Topoguide drei Sterne! Für den Anfang doch gut, oder?" Na toll! Seit 20 Jahren träume ich von den "Dolos", von verwegenen Türmen, die kühn und bröselig in den Himmel ragen und jeden abschütteln, der nicht mit Friends und Keilen umgehen kann oder zu schusselig ist, eine Linie ohne Haken und Griffe ohne Tickmarks zu erkennen.

Doch immer machte Herr Petrus einen Strich durch meine Reiseplanung. Oder ein gebrochener Fuß. Oder ein gerissenes Ringband. Meist aber riefen die nahen Berge der Westalpen einfach lauter als die fernen der Dolomiten. Nur einmal schaffte ich es hierher: im September 1997 – da regnete es dann eine ganze Woche lang. Jetzt aber regnet es in Chamonix, wo eigentlich der Walkerpfeiler auf unserem Programm stand, und als Ausweichziel für diese Kletterwoche haben wir die Dolomiten auserkoren.

Mein Kletterpartner scheint dafür wie gemacht, schließlich erkennt Herr Gantzhorn hier fast jeden Berg am Geruch. Außerdem teilen wir Leidenschaften, die viele Kletterer eher unter behandlungsbedürftig einstufen würden: lange Zustiege, komplizierte Routenverläufe, mangelhafte oder fehlende Absicherung, problematische Abstiege und ein mit viel Eisen geschmückter Gurt. "Auch Bruch hat seine schönen Seiten", sprach Herr Gantzhorn einmal versonnen in sein Glas Rotwein – seit diesem Tag sind wir Freunde.

Doch nun wird die Freundschaft auf eine harte Probe gestellt: Der Einstieg der Super Tegolina liegt nicht einmal eine Stunde vom Parkplatz entfernt, die Linie ist offensichtlich und gespickt mit Bohrhaken, der Fels bombenfest. Und oben steht nicht mal ein Kreuz! Ja selbst ein Gipfel ist nicht vorhanden, nur ein ödes Plateau, auf das jeder Wandersepp einfach von hinten rauflatschen kann. Wahrscheinlich ist dies eine der allerletzten Touren in den Dolomiten, die Herr Gantzhorn noch nicht abgeknipst hatte. "Fehlen nur noch Chalkspuren", rufe ich, mittlerweile zehn Meter über meinem Kletterpartner, "dann könnt’s auch im Climber‘s Paradise sein". Das Climber‘s Paradise rangiert auf Herrn Gantzhorns Beliebtheitsskala irgendwo zwischen Zahnschmerzen und SUVs – also ganz unten.

Und wieso nicht zu den Drei Zinnen?

Dass schon die Einstiegszüge der Super Tegolina ziemlich rassig sind, verschweige ich. Auch weiter oben wird‘s nicht langweilig, die Kletterei ist durchaus raffiniert, die Linie doch nicht so offensichtlich, wie’s von unten aussah, und die Hakenabstände wirken im Vorstieg vor allem an den fordernden Stellen gar nicht mal so kurz. Nach acht Seillängen sitzen wir auf dem Ausstiegsplateau, mampfen trockene Riegel und lassen uns die Sonne auf die Mütze knallen. Wir sind ganz allein, kein Mucks ist zu hören und die Aussicht auf die vielen mächtigen Felstürme verschlägt einem fast den Atem.

Eigentlich könnten wir das jetzt genießen, doch Herrn Gantzhorn juckt es schon wieder in den Fingern: "Wir könnten zum Monte Agner, der ist richtig wild, hat 48 Seillängen, eventuell sogar ein Biwak in der Wand und ist garantiert menschenleer." Ich kenne den Monte Agner nicht, habe noch nicht einmal von ihm gehört. Allerdings kenne ich hier sowieso kaum etwas mit Namen. "Und wieso nicht mal zu den Drei Zinnen?", schlage ich vor. Herr Gantzhorn atmet schwer und rollt die Augen. Ich glaube, er hat so etwas befürchtet.
(...)
"Du wolltest zu den Zinnen, jetzt hast du die Zinnen!" Trotzige Genugtuung schwingt in den Gantzhorn’schen Worten mit, die mir unmissverständlich klar machen, dass ich jetzt schlecht mosern kann. Wir stehen unter der Nordwand der Westlichen Zinne, genauer: am Einstieg der Cassin. Eigentlich aber stehen wir Schlange. Eine italienische Seilschaft steigt gerade ein, eine tschechische macht sich warm. Es ist kalt. Kaum haben wir unsere Rucksäcke abgestellt, gesellen sich noch zwei Spanier zu uns. Auch sie wollen die Cassin machen. Von weitem sieht die Wand toll aus – wie eine glatte, viele hundert Meter hohe Wand, die im unteren Teil gewaltig überhängt und sich erst weit oben etwas neigt. Frei geklettert ist die Cassin mit acht bewertet. Nicht unbedingt das, was ich im Gebirge jeden Tag klettere.

Erst recht nicht mit Rucksack im Vorstieg und drängelnden Seilschaften im Nacken. Doch es war die einzige Tour, zu der Herrn Gantzhorn an den Zinnen bereit war: "Wenn schon Zinnen, dann die Cassin!", sprach er gestern Abend im Bus. Da war es schön warm und gemütlich, die Flasche Wein bereits ausgetrunken und ich in Heldenstimmung. "Dann machen wir die eben", sagte ich, "ich steige auch die Schlüsselseillänge vor!" Erst jetzt dämmert mir, dass diese Aussage desaströse Folgen haben könnte: Die Schlüssellänge, so erkenne ich im Führer, ist Teil eines langen Quergangs, unter dem die Wand stark überhängt und somit einen Rückzug unmöglich macht. Von unten sieht das schrecklich aus, von oben – schau’n wir mal! Doch mit der Wartezeit wachsen die Zweifel. Die Spanier erzählen von ihren Versuchen in Alex Hubers Bellavista, die ein paar Meter weiter rechts unter dem großen Überhang einsteigt. Die ist 11-. Was machen solche Topchecker in der Cassin? Und wieso wird der Kloß in meinem Hals immer dicker?

Mit kalten Fingern und Rucksack im Vorstieg

Eine Stunde später stehen wir immer noch im Stau, nur etwas höher. Wir stehen zusammen mit den zwei Tschechen auf einem Felsband, fünf Seillängen vom Einstieg entfernt, 17 Seillängen liegen noch vor uns. Richtig warm geworden ist uns nicht. Während ich schlotternd auf einem trockenen Riegel kaue, schaue ich auf eine Gruppe Wanderer, die tief unter uns gemütlich durchs warme Sonnenlicht pilgert.

Unser Weiterweg hingegen verläuft zur Abwechslung auch mal waagerecht, allerdings nicht in der Sonne und weniger gemütlich: Das Felsband ist die Startrampe für die vier Schlüsselseillängen, allesamt Quergänge. Der erste ist mit sieben bewertet und führt zu einem Hängestand, von dort geht’s dann im achten Grad weiter. Oder auch nicht: Seit einer halben Stunde hängt einer der zwei Italiener bereits im besagten Stand, gibt immer wieder Seil aus, um es dann gleich wieder einzuziehen. Offenbar nestelt sein Partner gerade in der Schlüsselstelle herum, die man aber leider nicht sieht.

"Wieso brauchen die so lange, die waren doch bisher die schnellsten?", frage ich mich laut. "Ist halt acht, brüchig und dünn abgesichert", murmelt Herr Gantzhorn, sein linkes Auge fest an den Sucher seiner riesigen Kamera gepresst. "Vielleicht kommt er nicht weiter – und zurück geht’s ja ab hier sowieso nicht mehr", spricht der Fotograf teilnahmslos. Ein prüfender Blick unter den hängenden Italiener verrät: Herr Gantzhorn hat recht, im Quergang ist Abseilen fast unmöglich, dafür hängt die Wand darunter zu stark über. Von unserem Felsband ginge es allerdings noch ... Die Zweifel und der Kloß im Hals werden immer größer.

Einen mit Rostgurken gesicherten Achter im Vorstieg mit Rucksack und kalten Fingern zu durchsteigen, kommt mir plötzlich vollkommen idiotisch vor. Verdammter Rotwein! Das lange Warten raubt den letzten Funken Optimismus. "Wir können ja runter und noch was anderes machen", versuche ich es in möglichst gleichgültigem Tonfall. Herr Gantzhorn löst den Kopf von der Kamera und blickt mich erzürnt an. "Runter? Nee, das ziehen wir jetzt durch!"

Als endlich auch der tschechische Nachsteiger den Hängestand erreicht, zieht Herr Gantzhorn die Kletterschuhe an und macht sich Arme rudernd warm. Jetzt läuft der Countdown: Der erste Tscheche verlässt den Stand und verschwindet aus dem Blickfeld. Kurz drauf ein Ruf, und schon löst sich der zweite Tscheche vom Stand und verschwindet um die Ecke. "So fix wie die waren, ham die das bestimmt technisch gemacht!", sagt Herr Gantzhorn. Mit den Worten "dann isses nur sechs" klettert er zum Hängestand und richtet, dort eingehängt, die Kamera auf mich – sein Zeichen für "Nachkommen".

Jetzt bloß nicht kotzen!

Der Stand ist gar nicht so übel, abgesehen davon, dass man eben hängt und nicht steht. Immerhin, es gibt einen tapferen Bolt und eine lustige Rostgurke. Der Weiterweg ist hingegen nicht witzig. Abgewetzte Seilstücke mit eingeknoteten Schlaufen baumeln an Normalhaken aus dem letzten Jahrtausend, dazu gibt es ein paar Leisten und enorm viel Platz zum Runterfallen. "Wenn du hier fliegst, schlägst du wenigstens nicht an den Fels", startet Herr Gantzhorn einen Beruhigungsversuch. Mir wird trotzdem übel. "Jetzt bloß nicht kotzen!", fährt es mir durch den Kopf.

Das wäre echt peinlich, zumal die Tschechen am nächsten Stand mit der Kamera im Anschlag warten. Also erst einmal mit kritischem Gesicht den Routenverlauf checken. Herr Gantzhorn nestelt derweil ungeduldig an seiner Kamera herum, will aber meiner Bitte, keine Fotos zu machen, brav Folge leisten und zur Abwechslung mal vorschriftsmäßig sichern. Mit der Ankündigung eines baldigen Sturzes in die maroden Haken löse ich mich vom Stand und teste die ersten Leisten. Zum Glück sind die schon vorgechalkt und damit nicht nur griffig, sondern auch wegweisend. Aber auch ganz schön klein. Und die Tritte? Sie verdienen diesen Namen nicht. Bloß schnell durch, bevor die Arme dick werden, schießt es mir durch den Kopf – und ja nicht verhaspeln!

Zum Glück gibt es so etwas wie einen Motorik-Autopiloten, der in brenzligen Situationen den überforderten Kletterer quasi ins Koma versetzt und für ihn die richtigen Bewegungen steuert. Meiner ist zwar nicht sehr zuverlässig, doch heute scheint er gut gelaunt zu sein und ergreift das Kommando: Wie aufgezogen schnaufe ich mit Tunnelblick dem Stand entgegen, das Klicken der Gantzhorn’schen Kamera – er fotografiert also doch! – registriere ich wie im Halbschlaf ohne Reaktion. Die Arme aufgepumpt wie zwei Feuerwehrschläuche finde ich mich plötzlich am Stand hängend wieder. War’s das? Nicht ganz.

Die nächste Seillänge verläuft komplett waagrecht, und zwar gute 60 Meter nach links. Doch diesmal gibt es wenigstens ein gut halb Meter breites, stellenweise unterbrochenes Band – und einen Fotografen, der das vorsteigt. Danach folgt noch eine knifflige 7er-Länge und ein 4er-Quergang durch einen Wasserfall, bevor sich die Wand neigt und in fröhliches Gebrösel übergeht. "Und", fragt Herr Gantzhorn am Ausstieg gemütlich in der Sonne liegend, "war das jetzt dolomitisch genug?" War es. Nur die Einsamkeit fehlte.

Die Sonne scheint, der Fels bröselt...

Zwei Regentage später sehen uns die Sellatürme zum Innerkofler Turm am Langkofel aufsteigen. Genauer: zur Via del Calice, einen meist selbst abzusichernden Siebener mit zwölf Seillängen, nur "teilweise festem Fels" und natürlich ohne Abseilpiste. Auch die Bedingungen sind alpin: Dicke Wolken kleben an den Wänden, die teils noch klitschnass sind. Steile Schotterhänge und etliche Altschneefelder querend suchen wir nach dem Einstieg. So muss das sein! Erst einmal fein suchen, das erhöht die Spannung. Niemand da – auch das ist fein, zumal heute Samstag und an den Sellatürmen der Teufel los ist. Die Vorfreude steigt ins Unermessliche, als wir dann auch noch den Einstieg als solchen erkennen und die Wolken aus der Wand ziehen.

Die Via del Calice erweist sich als echtes Highlight: Mit grandiosem Ausblick ins Fassa-Tal geht es aufwärts. Kein Straßenlärm zu hören, kein Lift in Sicht. Die Sonne scheint, der Fels bröselt, Friends und Keile finden flott ein sicheres Plätzchen im Fels und unsere einzigen Zuschauer sind die Dohlen, die sich erst am Ausstieg verabschieden. Gegen 16:00 Uhr sitzen wir auf dem großen Gipfelplateau – allein –, blättern im Gipfelbuch und genießen die Aussicht. Was folgt sind ein langer, hübsch komplizierter Abstieg, ein guter Rotwein im Bus und die Gewissheit, nächstes Jahr wieder zu kommen.

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