Wie auf einem surrealistischen Gemälde ragen seine grauen Mauern aus den Wassern des Reschensees. Wer ihn gesehen hat, vergisst ihn nicht mehr – der Kirchturm von St. Pedro ist eines der berühmtesten Motive des Alpenraums. Seitdem der Ort Graun zwischen 1948 und 1950 in dem Stausee versank, schossen Generationen von Reisenden hier schon ihr Erinnerungsfoto, beim ersten Stopp im Land der Verheißung: Italien. Doch während der Turm für viele nur ein Haltepunkt auf der Reise in südlichere Gefilde darstellt, sind viele Bergwanderer hier endlich am Ziel ihrer Träume angekommen: im Vinschgau in Südtirol, einer Region für Genießer in vielerlei Hinsicht.
Das beginnt schon beim Wetter. Bis in den Herbst hinein bleibt die Etschtalregion zwischen Reschenpass im Nordwesten und Meran im Osten für Wanderer attraktiv. Die 3000 Meter hohen Berge rings herum lenken Schlechtwettereinbrüche von Norden, Westen und Süden gleichermaßen ab. So scheint an gut 310 Tagen im Jahr die Sonne im Val Venosta, wie der Vinschgau auf Italienisch heißt. Die Niederschlagsmenge liegt zwischen 440 und 660 mm pro Jahr – Werte, die mit denen Siziliens vergleichbar sind.
Der sonnenverwöhnte Vinschgau lockt auch im Spätherbst noch mit Höhenwanderungen. outdoor stellt die fünf besten Touren für jeden Anspruch vor:
Tour 1: Latschander Waal und Tscharser Schnalswaal
Tour 2: Höhenweg St. Martin–Kortsch
Tour 3: Spitzige Lun (2324 m)
Tour 4: Sesvenna-Hütte, 2256 m, und Uina-Schlucht
Tour 5: Auf die Laaser Spitze (3304 m)
Was den Wanderer von heute freut, bereitete den Einheimischen einst Kopfzerbrechen. Wegen der sommerlichen Hitze kann sich am Sonnenberg, wie die exponierten Nordhänge des Etschtals genannt werden, außer Steppenbewuchs keine schützende Pflanzendecke bilden. Durch die hohen Temperaturunterschiede verwittert das Gestein sehr schnell und wird bei den wenigen, dafür umso heftigeren Regentagen im Jahr mit Muren ins Tal geschwemmt.
Sonne satt – mediterranes Klima im Vinschgau
Um den Talboden bewässern zu können, schufen die Vinschgauer ein Bewässerungssystem von über 600 Kilometern Länge. Schon seit dem 13. Jahrhundert wird das Wasser von der Etsch und den Gletscherbächen aus den Hochtälern ringsum abgezweigt und über Gräben, in Fels gehauene Rinnen und Holzrohre ins Tal geleitet. Bald entwickelte sich der Beruf des Waalers: Er bewachte den Wasserlauf auf kleinen Wegen Tag und Nacht. Eine Glocke, die durch einen Hammer an einem Wasserrad zum Bimmeln gebracht wurde, zeigte ihm an, ob Wasser floss. Inzwischen wurden die meisten dieser Kanäle, die sogenannten Waale, durch moderne Beregnungsanlagen ersetzt. Doch einige von ihnen, wie der Tscharser Schnalswaal aus dem frühen 16. Jahrhundert, führen noch immer Wasser. Von Kastelbell/Tschars begleitet ein Wanderweg diesen Waal bis zum Schloss Juval. Dort kommen Besucher nicht nur in den Genuss einer bimmelnden Waalschelle, sondern auch in den verschiedener Kunstsammlungen am Wohnsitz Reinhold Messners. Zwischen elefantenköpfigen Ganescha-Büsten, tanzenden Shiva-Statuen und flatternden Gebetsfahnen weht hier ein Hauch Himalaja. Landestypisch dagegen sind die Gerichte, die im Restaurant Schlosswirt Juval serviert werden: heimische Weine und Lammspezialitäten, deftige Käse- und Wurstplatten, süße Krapfen.
Südtirols herzhafte Küche – perfekt für Wanderstärkungen
Überhaupt ist der Vinschgau ein Paradies für Freunde von bodenständiger Küche mit Zutaten aus regionalem Anbau. Im Herbst sind »Törggele-Partien« beliebt: Ein Südtiroler Brauch einer geselligen Mahlzeit mit Hausmannskost wie Schlachtplatten und Knödeln, zu denen man jungen Wein trinkt und zum Abschluss geröstete Kastanien isst.Eine weitere Spezialität sind Schlutzkrapfen. Die Nudelteigtaschen ähneln Ravioli und Maultaschen und werden in Südtirol besonders gerne mit einer Spinat-Quark-Mischung oder Roter Bete gefüllt.
Den Appetit für die reichhaltige Küche des Vinschgaus kann man sich auch im Herbst noch wunderbar erwandern: Selbst Ende Oktober, wenn in den Nordalpen die meisten Menschen längst ans Skifahren denken, locken im Vinschgau noch Bergtouren. Zum Beispiel auf die Spitzige Lun (2324 m). Während der Wanderer durch Wald und Wiesen stapft und sich dem herben Duft von verblühten Wiesen und vertrocknetem Gras hingibt, mag er kaum glauben, dass er gerade auf einen Gipfel der Ötztaler Alpen steigt. Zu sehr verbindet man mit dieser Gebirgsgruppe vergletscherte Berge.
Vinschgau – Vis-à-Vis des Ortlers
Auf der anderen Seite der Etsch, rund 30 Kilometer im Südosten, wartet eine ambitioniertere Tour auf späte Gäste. Im Nationalpark Stilfser Joch liegt die 3304 Meter hohe Laaser Spitze, die auch als Orgelspitze bekannt ist. Hier durch die Felsen kraxeln und vis-à-vis des Ortlers und der Königsspitze ganz oben stehen, die Augen 2500 Meter hinab ins Haupttal zur Etsch schweifen und den Vinschgau in Ruhe auf sich wirken lassen: für trittsichere und schwindelfreie Wanderer kein Problem. Falls noch kein Schnee liegt, kann man
diese anspruchsvolle Sommerbergtour auch im Frühherbst wagen.
Wanderer, die es mehr nach historischer Dramatik verlangt, begeben sich auf alte Schmugglerpfade. Wegen seiner Lage an der österreichischen und Schweizer Grenze war das Vinschgauer Dreiländereck sehr beliebt für den unbemerkten Grenzübertritt. Einer der viel begangenen Schmugglerwege führte von dem kleinen Dorf Schlinig über den gleichnamigen Pass in die Schweiz und durch die Uina-Schlucht ins Unterengadin.
Auf alten Schmugglerpfaden
Wenn man diese Tour heutzutage bei strahlendem Sonnenschein unter die Sohlen nimmt, hält sich der Gänsehaut-Effekt im Rahmen. Spannend wird es bei Regen. Schritt für Schritt tastet man sich dann hinter der Sesvenna-Hütte auf schmalem Pfad durch wabernde Wolkenmassen zum Schlinig-Pass auf 2309 Meter Höhe. Jegliches Gefühl für Zeit und Raum geht verloren, bis plötzlich ein Grenzstein und Zaun aus dem Nebel auftauchen. Schnell durch das hölzerne Drehkreuz geschlüpft, und schon steht man auf Schweizer Boden. Dort führt der Pfad abwärts aus den Wolken heraus in die Schlucht: Der Steig wurde auf der rechten Canyonseite aus den Felsen gesprengt. Der Untergrund ist nass und rutschig, vorsichtig setzt man einen Fuß vor den anderen. So ähnlich muss es den Schmugglern ergangen sein, wenn sie nachts bei Wind, Regen und Schnee ihre Waren über die Grenze brachten.
Heute wird allenfalls Schwarzgeld in die Schweiz geschmuggelt. Alle anderen Besucher des Vinschgaus können Kraftstoff, Zigaretten und Alkohol zollfrei und ganz legal auf dem Rückweg im 20 Kilometer entfernten Samnaun kaufen. Ein Besuch dieses »Zollausschlussgebietes« an der benachbarten Silvretta ist für viele Reisende zur Tradition geworden genau wie der Stopp bei San Pedro auf der Hinfahrt.
Wandern im Vinschgau – alle Infos für Ihre Planung
Tourentipps:
Charakter:
Dank seiner abgeschirmten Lage zwischen den Ötztaler Alpen im Norden, dem Ortler Gebirge im Süden und der Sesvenna-Gruppe im Westen lockt der Vinschgau mit vielen Sonnenstunden, warmen Tagestemperaturen und einem trockenen Klima, das locker mit einigen Regionen auf Sizilien mithalten kann. Besonders im Herbst, wenn in den Nordalpen längst Nebel und Schnee die Berge verhüllt, kann man hier noch traumhaft wandern und Sonne tanken.
Beste Zeit:
Je nach Wetterlage und Höhe der Tour von März bis Ende November.
Anreise:
Von München über die A 95 nach Garmisch und weiter über den Fernpass nach Landeck und den Reschenpass in den Vinschgau. Alternativ von München auf der A 12 über Kufstein oder über die A 96 und Garmisch-Partenkirchen, Innsbruck zum Brennerpass und auf der A 22 nach Bozen bis zur Ausfahrt Bozen-Süd. Von hier auf der MEBO Schnellstraße in nördlicher Richtung über Meran in den Vinschgau.
Übernachtung:
Verschiedene Pensionen und Hotels in den einzelnen Ortschaften; Camping Badlerhof, Kugelgasse 4 b, I-39023 Laas, Tel. 0039/0473/628159, info@camping-badlerhof.it, www.camping-badlerhof.it; Sesvenna Hütte, bewirtschaftet vom 11. Juni bis 25. Oktober 2009, Tel. 0039/0473/830234.
Info:
TVB Vinschgau, Kapuzinerstraße 10, I-39028 Schlanders; E-Mail: info@vinschgau-suedtirol.info; Tel. 0039/0473/620480; Tourismusverein Latsch–Martell, Hauptstraße 38/a, I-39021 Latsch, Tel. 0039/047/623109; E-Mail: info@latsch.it, Tourismusbüro Mals, St. Benediktstraße 1, I-39024 Mals im Vinschgau, Tel. 0039/0473/831190; E-Mail: mals@rolmail.net
Karten:
Alles auf einen Blick: Kompass Wanderkarte 52, Vinschgau, Val Venosta, Maßstab 1:50000, 7,50 Euro.
Genauer aber auf mehreren Kartenblättern: Tabacco Wanderkarte 043, Vinschgauer Oberland, Maßstab 1:25000, 8,90 Euro; Tabacco Wanderkarte 044, Vinschgau Sesvenna, Maßstab 1 : 25000, 8,90 Euro; Tabacco Wanderkarte 045, Val Martello – Silandro – Laces/Martelltal – Schlanders – Latsch, 1:25000, 8,90 Euro.
Literatur:
Wanderführer Vinschgau: Reschenpass – Sulden – Martelltal – Schnalstal,
Henriette Klier, Bergverlag Rother 2006, 11,90 Euro.
outdoor-Tipp:
Wer gerne Fahrrad fährt, ist im Vinschgau richtig. Die Region mit ihren Sonnenhängen ist im Herbst geradezu prädestiniert zum Mountainbiken und Fahrradfahren. Zahlreiche Routen wurden ausgearbeitet. Die Wegbeschreibungen gibt es auf den Websites der Tourismusämter
Links:
Die Webseiten der Tourismusbüros:
www.sesvenna.com
www.vinschgau-suedtirol.info
www.latsch-martell.it
www.ferienregion-obervinschgau.it
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