Floßabenteuer in der Wildnis Schwedens

Per Floß durch Schweden: Paddeltour auf dem Klarälven
Floßabenteuer in der Wildnis Schwedens

Es braucht nicht viel, um die Welt zu vergessen: Einen Haufen Holz, eine Kiste Taue, und los geht's mit dem selbst gebauten Floß über den Klarälven in Schweden.

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Foto: Fredrik Lewander

Wir müssen irgendwann anhalten. Anlegen. Aber wie? Eine Bremse hat unser Floß nicht. Von einem Anker ganz zu schweigen. »Hast du eine Idee, wie wir mit dem Floß aus der Strömung rauskommen?«, frage ich den Fotografen Fredrik. Er steht am Bug des Floßes, die Angel in der Hand, den Köder im Blick. »Det ordnar sig«, sagt er. Das regelt sich. Schwedische Gelassenheit auf dem Floß. Alles ist im Fluss.

Wir gleiten lautlos über das Wasser des Klarälven, die sanften Hügel der Region Värmland ziehen an uns vorbei. Die Fahrt auf dem Klarälven wirkt wie eine Reise durch eine Stummfilmkulisse. Allerdings in Farbe und nicht in Schwarz-Weiß. Auch die klassische Musikuntermalung fehlt. Wir hören nur die Natur und die erzählt uns ihre Geschichten in ihrer eigenen, fesselnden Sprache.

Das Schöne: Wir haben Zeit, ihr zuzuhören, denn Floß fahren bedeutet loslassen, genießen. Es ist eine der angenehmsten Fortbewegungsarten überhaupt. Die Strömung des Flusses Klarälven treibt uns an und lenkt uns. Richtung und Tempo sind vorgegeben. Normalerweise fließt der Klarälven mit zwei Kilometern pro Stunde träge vor sich hin – in weit ausladenden Schleifen schlängelt er sich in Richtung Süden, bis zum See Vänern. Normalerweise. Es sei denn, der Klarälven führt Hochwasser. Dann kann die Geschwindigkeit in Kurven bis auf sieben Kilometer pro Stunde steigen.

»Das macht aber nichts«, sagt Ing-Marie von Vildmark i Värmland, dem Veranstalter der Floßfahrten, als wir an einem regnerischen Junimorgen um 10 Uhr am Campingplatz in Stöllet ankommen, einem kleinen Ort 140 Kilometer nördlich von Karlstad. »Im Gegenteil. So schafft ihr mit einer Übernachtung locker die 50 Kilometer bis Gunnerud. Floß fahren ist sowieso nicht nur Entspannung, sondern auch immer ein wenig Abenteuer«, ergänzt sie. Und ein wenig Arbeit. Denn das Floß bauen Fredrik und ich selbst.

Der kleine Sandstrand des Campingplatzes sieht aus wie das Lager eines Sägewerks. Baumstämme, so weit das Auge reicht – ordentlich in drei Meter lange Stücke gesägt. Es gibt Stämme, die sind so dick wie Telegrafenmasten. Die dünneren machen schon einen etwas handlicheren Eindruck. Alles in allem eine ganze Menge Holz.

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Fredrik Lewander
Nur im nassen Element lassen sich die schweren Stämme zu einem Floß zusammenknoten.

Und daraus soll mal ein Floß werden? »Kein Problem«, sagt Ing-Marie. Immer die­se schwedische Entspanntheit. »Alles, was wir brauchen, sind die Stämme, Seile und ein wenig Wissen.« Das vermittelt sie uns an Land. Wir bekommen eine kleine Knotenkunde nach Flößerart: Rundtörn mit zwei hal-ben Schlägen, doppelter Halbschlag, halber Schlag und der Kreuzknoten. Letzteren braucht man, um Taue zu verlängern. Ich befürchte, dass ich vor allem Ing-Marie später noch mal brauche, um nicht den Überblick beim Vertauen zu verlieren.

Gebaut wird das Floß nämlich im knietiefen Wasser des Klarälven. Nur im nassen Element lassen sich die schweren Stämme zu einem Floß zusammenknoten, das am Ende aus drei Lagen besteht: dicke, mitteldicke und dünne Stämme. Schicht eins und zwei verschwinden unter Wasser, sie bilden den Kiel, Schicht drei ist der – hoffentlich trockene – Fußboden des Floßes.

Stamm für Stamm: Ein Floß entsteht

Platsch, platsch, platsch! Nach und nach rollen die Stämme für das Floß vom Lagerplatz über den Sand und klatschen ins Wasser. Ich schleppe, binde, ziehe, umwickel, knote fest – und schnaufe. Fredrik geht es mit seiner drei mal drei Meter großen Floßhälfte nicht anders. Immer wieder kommt Ing-Marie vorbei und hilft mir, meine Hände zu entknoten und die Holzstämme richtig zusammenzubinden. Jeder Knoten muss sitzen, denn schließlich soll das Floß nicht während der Fahrt auseinanderfallen. Nach gut vier Stunden ist es so weit: Wir verbinden die beiden Floßhälften.

18 Quadratmeter Grundfläche, zwei Tonnen Gewicht, auf einer Seite ein Zelt, das Schutz bieten soll. Vor mir schwimmt im Wasser das, wovon wahrscheinlich jeder kleine Junge geträumt hat: ein eigenes Floß (siehe Video):

Floß gebaut und abgelegt

Ich schleppe vier Holzkisten an Bord des Floßes, in denen wir alles finden, was wir für das Leben auf dem Wasser und bei unserer Floßtour auf dem Fluss Klarälven brauchen. Proviant, Taue, einen Gaskocher, Isomatten, Schlafsäcke und natürlich auch eine Schaufel und Toilettenpapier. Das Wichtigste bekommen wir aber von Ing-Marie mit auf den Weg – gute Ratschläge: »Achtet in den Kurven auf die Äste, die in den Fluss ragen. Ihr müsst euch rechtzeitig mit dem Stakstock abstoßen. Und passt auf, dass ihr mit dem Floß nicht in Kehrwasser kommt. Es ist sehr anstrengend, da rauszukommen ... Aber ihr schafft das. Gute Fahrt!« Ich stoße mich mit dem sogenannten Stakstock, einem vier Meter langen, stabilen Stamm, vom Ufer ab. Fredrik folgt mir und dem Floß später mit unserem Beiboot, einem Kanu. Langsam gleitet das Floß in die Mitte des Flusses, die Strömung des Klarälven ergreift das Floß sanft. Alles läuft von selbst. Ich stehe wachsam am Bug des Floßes, beobachte den Fluss. Vor mir erscheint die erste der zahlreichen Kurven. Doch anstatt ans linke Ufer herausgetragen zu werden, geht es auf einmal rückwärts. Auf diese Art lerne ich schon nach zehn Minuten, was Kehrwasser bedeutet: Die Strömung kehrt flussaufwärts. Ich versuche mit der Stakstange, das Floß zurück in die Strömung des Klarälven zu bugsieren, steche ins Leere. Kein Grund zu spüren. Keine Chance.

Treibgut in den Fängen des Wassers

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Fredrik Lewander
Gespiegelte Weite: das Floß als Fixpunkt am Horizont.

Gut, dass Fredrik mich mittlerweile mit dem Kanu erreicht hat. Mit vereinten Paddelkräften versuchen wir, unser Floß wieder auf Kurs zu bringen. Unmöglich. Wie überall kostet blinder Aktionismus nur Kraft – zielführend ist er nicht. Fredrik hat eine Idee: »Wir lassen uns bis zur Kehrwasserlinie zurücktreiben. Dann paddeln wir alles, was geht.« Mit Erfolg. Es geht wieder vorwärts. Wir sind Treibgut in den Fängen des Wassers. Ich setze mich vorne auf die Floß-Reling, lasse meine Füße ins Wasser des Klarälven baumeln. Ruhe kehrt ein. Biber beobachten uns, springen links und rechts von uns ins Wasser, als ob sie demonstrieren wollen, dass wir mit unserem Floß nicht alleine auf dem Klarälven sind.

Bis 1991 wurde auf dem Fluss Klarälven, der im Femundsee in Norwegen entspringt, gewerblich geflößt, wie es in der Fachsprache heißt. In Skandinavien wurde oft lose Flößerei betrieben, das heißt, die Stämme, die später zur Papierherstellung genutzt werden sollten, trieben unverbunden auf dem Fluss Klarälven, bis zu einer Sammelstelle. Von dort ging es dann weiter zur verarbeitenden Industrie.

Ich lerne den Fluss auf meinem Floß immer besser kennen, ihn zu lesen. Oft kann man mehrere hundert Meter weit bis zur nächsten Kurve blicken. Und fast bei jeder Kurve können wir uns sicher sein, dass uns die Uferbäume gefährlich nahe kommen. »Fredrik, Achtung! Der Baum erwischt uns.« Wir versuchen uns verzweifelt mit den Stakstöcken Luft zu verschaffen, aber ein Ast kracht gegen die Zeltplane. Die Konstruktion hält. Allerdings bekommen wir ein anderes Problem. Die Dunkelheit bricht herein, und noch haben wir kein geeignetes Nachtlager erblickt. Wegen des Hochwassers ziehen die guten Plätze zu schnell an uns vorbei. Wir kommen nicht aus der Strömung. Da ist sie wieder, meine Sorge. Wie halten wir an? Laut Karte fahren wir gerade eine 90-Grad-Kurve. »Hier versuchen wir es«, sagt Fredrik. Ein guter Plan? Ich klettere ins Kanu, fahre mit einem Tau, das am Floß fest verknotet ist, hinüber ans Ufer des Klarälven. Fredrik ist noch gut fünfzig Meter entfernt. Schnell binde ich das Seil an einem kräftigen Baum fest. Die Idee: Wir wollen so das Floß aus der Strömung ziehen, endlich schlafen.

Stattdessen sinken wir fast. Die Strömung des Klarälven ist so stark, dass das Seil das Floß nach unten zieht. »Wir gehen unter! Wir gehen unter!« schreit Fredrik, zieht geistesgegenwärtig sein Mora-Messer und kappt das Tau.

Adrenalin pur. Dass wir in der nächsten Stunde immer noch kein Nachtlager finden, stört uns nicht weiter. Doch der Fluss meint es gut mit uns, treibt unser Floß in ruhiges Gewässer. Wir gehen vor Anker, packen die Isomatten aus und finden vier Stunden Schlaf auf den harten Planken unterm Zeltdach.

Das Floß ist unser Haus aus Holz

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Fredrik Lewander
Kaffeeschwaden und der Duft des neuen Tages: Frühstück!

Fredrik ist morgens um sechs schon mit dem Kanu auf dem Klarälven unterwegs. Er beobachtet Vögel und Biber, ich bereite das Frühstück vor. Der Duft von Kaffee steigt in die klare Morgenluft. Das Floß ist unser Haus aus Holz geworden. Schlaf-, Wohn- und Esszimmer für 24 Stunden. Auch wenn immer mal wieder Orte, Höfe und andere Anzeichen von Zivilisation am Ufer des Klarälven auftauchen, nehmen wir das auf unserem Floß kaum wahr. Unsere Welt ist der Fluss, die Ruhe, das Abenteuer.

Noch einmal stoße ich das Floß zurück in die Strömung. Noch 20 Kilometer sind es bis Gunnerud, unserem Zielort. Die Sonne spiegelt sich auf der glatten Wasseroberfläche des Klarälven. Ideale Voraussetzungen zum Fliegenfischen, einer besonderen Angeltechnik. Fredrik ist Profi, lässt die Köder gekonnt übers Wasser sausen. Bei mir sieht das nicht ganz so elegant aus, auch wenn Fredrik mir beharrlich immer neue Tipps zur Wurftechnik gibt. Auch hier zeigt sich seine schwedische Gelassenheit, denn in Sachen Fliegenfischen bin ich ein hoffnungsloser Fall.

Dafür habe ich bei der Flößerei einiges gelernt. Einen Kilometer vor Gunnerud halten wir das Floß gekonnt am Ufer, abseits der Strömung. Wir bereiten den letzten, entscheidenden Landgang vor. Noch eine Kurve. Wir sehen drei festgetaute Flöße. Wir werden erwartet. Ich schmeiße ein Seil an Land. Wir werden langsamer, bremsen, halten an. Alles im Fluss, auch auf dem Floß.

Ein eigenes Floß bauen: So geht's

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