Die 14 Hunde kennen nur den Weg nach vorne. Sie bellen aufgeregt, ihr Atem zerstäubt in der minus zehn Grad kalten Luft in Kristalle. Der Musher, der den Schlitten und seine Hunde lenkt, steht auf den Kufen und bedient die Bremse. Noch befindet sich das Gespann nicht am Start, und es braucht Motorenkraft, um es zurückzuhalten: In etwa vier Meter Abstand knattert ein Quad hinter ihm. Ein Seil verbindet es mit dem Schlitten, der Fahrer steuert der Kraft der Hunde entgegen und hält den Schlitten in Position. "Ohne das Quad wären wir schon längst auf und davon", ruft der Musher herüber. Kein Wunder: Die stärksten Schlittenhunde können das Neunfache ihres Körpergewichts ziehen. Und genau diese immense Kraft und Energie ist gefragt beim längsten Hundeschlittenrennen Europas, dem Finnmarksløpet.
Das Quad geleitet das Gespann vom Parkplatz bis zum Zentrum von Alta, der größten Stadt der Finnmark, der nördlichsten Provinz Norwegens. Die schmale Fußgängerzone ist mit Banden abgesperrt, dahinter feuern einige Dutzend Leute die Hundegespanne an. Am Ende der Startmeile baut sich die Nordlichtkathedrale auf, ein Sakralgebäude, das durch seine Verkleidung aus Titanplatten futuristisch anmutet. Vier Freiwillige führen unter großen Mühen die Hunde bis zum Start, dort wird der Schlitten in einen Ankerpunkt eingehängt.
Das Gebell von tausend Hunden erfüllt die Luft
Der Finnmarksløpet hat sich seit seiner Gründung 1981 zu einem Volksfest entwickelt. Das Rennen bedeutet den Norwegern mindestens genauso viel wie den Franzosen ihre Tour de France, inklusive Live Übertragung im Fernsehen. Das Gebell von mehr als 1.000 Hunden erfüllt den Ort, dazu mischt sich die Stimme des Moderators, der jedes Team individuell vorstellt. Drei, zwei, eins – "Go, go, go!", schallt es aus den Lautsprechern, dann ertönt wieder Popmusik. Endlich dürfen die Hunde lossprinten. Hendrik Stachnau reißt seinen linken Arm nach oben und winkt den Zuschauenden zu, mittlerweile schneit es große Flocken aus einem dunkelgrauen Himmel.
Er gehört zu den wenigen Deutschen, die an dem mit 1200 Kilometern längsten der drei Rennen teilnehmen. Der gebürtige Hamburger lebt inzwischen in Schweden und betreibt dort wie viele seiner Kollegen und Kolleginnen eine Schlittenhundefarm. "Mein Team besteht ausschließlich aus Grönlandhunden und Alaskan Malamute, den Urschlittenhunden der Inuit", sagt er noch vor dem Start. "Ich will beweisen, dass es auch mit ihnen geht", fügt er hinzu. Beim 1600 Kilometer langen Yukon Quest in Nordamerika 2019 ist ihm das bereits gelungen – er belegte den 27. Platz.
Die meisten Musher und Musherinnen setzen anders als er auf die leistungsfähigeren Siberian Huskys oder besser noch die Alaskan Huskys, denen schlankere, agilere Hunderassen beigemischt sind. Bei der Zucht gilt die Abwägung zwischen Leistung und Robustheit, denn die Hunde müssen nicht nur schnell rennen, sondern auch den widrigen Bedingungen mit bis zu minus 40 Grad Kälte, Wind und Schneefall standhalten können.
An diesem Freitagvormittag Anfang März gehen mit Hendrik Stachnau im Zwei-Minuten-Takt 29 Teams an den Start der langen Distanz. Ein Team muss aus mindestens neun Hunden bestehen. Die meisten entscheiden sich aber für die maximale Anzahl von 14, weil sie so die Chancen erhöhen, am Ende noch die Mindestzahl von sechs im Ziel übrig zu haben. Hunde, die auf dem Weg wegen Erschöpfung oder Verletzung ausfallen, werden bis zum nächsten Checkpoint im Schlitten mitgenommen und dann vom Unterstützerteam der Musher übernommen.
Selbst die Kurzstrecke hat schon 200 Kilometer
Neben der langen Distanz treten Erwachsene auch auf einer abgespeckten Variante von 600 Kilometern und Jugendliche im Alter zwischen 15 und 18 Jahren auf einer Distanz von 200 Kilometern an. Darunter auch die 16-jährige Eva Hess aus Düren bei Köln. "Das ist mein erstes Finnmarksløpet", sagt sie vor dem Start. Auf der kurzen Strecke benötigt sie nur sechs Hunde. Ihre Siberian Huskys sind warm eingepackt, sie tragen Schuhe zum Schutz für die Pfoten und einige auch blaue Mäntel. Etwa 28 Stunden später wird Eva nach einer 200 Kilometer langen Schleife über Suossjavri wieder nach Alta zurückkehren. "Die Nacht ist das Schlimmste", berichtet sie. Wenn sie allein mit den Hunden durch die Dunkelheit jagt, über sich die Sterne, um sie herum nur Schnee, Eis und Bäume. Sie erzählt von diesem merkwürdigen Gefühl, das da in ihr hochkriecht. Schlafmangel, Hunger und Kälte mischen sich dann zusammen zu so etwas wie Heimweh. Sie "finished" das Rennen, gelangt also regelgerecht in Alta an.
Das Regelwerk des Rennens geht auf jedes Detail ein. Das bestätigt auch Roger Dahl, der dieses Jahr zum 27. Mal teilgenommen hat und damit als "König des Finnmarksløpet" gilt. Mit seinen 71 Jahren hat er auch den Altersrekord gebrochen. Er kennt das Rennen von seinen Anfängen in den Achtzigerjahren und sagt: "Es wird jedes Jahr professioneller", und fügt hinzu: "Das Wohl der Tiere steht dabei immer an erster Stelle." Vertrauen zwischen den Hunden und dem Musher sei entscheidend. Man könne die Hunde nicht einfach dazu zwingen, für einen zu rennen, den Schlitten zu ziehen oder in eine gewünschte Richtung zu rennen. Das sei Teamarbeit.
Die Verfassung der Hunde wird regelmäßig geprüft
Vor allem die Veterinärchecks und Regelungen zu Pflichtpausen werden immer strenger. Die Tierärzte checken vor und während des Rennens regelmäßig den Allgemeinzustand des Hundes, seinen Atem- und Kreislaufapparat, den Verdauungstrakt sowie den Flüssigkeitshaushalt. Trotzdem bleibt der Finnmarksløpet Hochleistungssport. Die Hunde verbrauchen pro Renntag bis zu 11.000 Kilokalorien. Damit liegen sie sogar noch über den Fahrern der Tour de France, bei denen der Konsum zwischen 6.000 und 11.000 Kilokalorien variiert. Die längste Route führt einmal quer durch die Finnmarksvidda, die arktische Hochebene, durch Wälder und über Berge. Insgesamt zwölf Checkpoints liegen auf der Route, der Umkehrpunkt befindet sich in Kirkenes, einer Stadt von 3.500 Einwohnern an der Grenze zu Russland. Die Route ist durchwegs markiert, aufgrund der schwierigen Wetterverhältnisse aber nicht immer zu erkennen. Die Musher und Musherinnen verlassen sich neben dem Geruchssinn ihrer Hunde auf die Anzeige ihres GPS-Geräts, das die Route zeigt. Zudem muss jedes Team einen GPS-Tracker entweder direkt am Körper des Mushers oder am Schlitten mitführen. Auf der Website lässt sich die Route dann für alle nachverfolgen.
Der letzte Stopp kommt in Karasjok, der Hauptstadt der Samen. Hier müssen die Teams spätestens um 0 Uhr in der Nacht zum Sonntag auschecken, also nach einer Woche Renndauer. Noch 132 Kilometer trennt sie hier vom Ziel in Alta. Gerade geht die Sonne zwischen den hohen Tannen unter und taucht alles in ein warmes Licht. Von Weitem hört man Hunde japsen. Das nächste Team nähert sich dem Checkpoint – Startnummer zehn, Hendrik Stachnau. Er hat es mit seinen zähen Hunden bis hierhin geschafft. Aktuell liegen sie noch im Zeitlimit. Stachnau wirkt fertig, man sieht ihm den extremen Schlafentzug der letzten Woche an, die wenigen Stunden Ruhe, die die Musher entweder in einer Unterkunft am Checkpoint oder im Wohnwagen ihres Teams haben.
Mit abwesendem Blick versorgt er seine Hunde. Er befestigt eine Hauptleine mit Ankern im Schnee und hängt die Hunde in regelmäßigen Abständen ein. Zur Isolation legt er Stroh auf den Boden, worauf sich die Hunde bereitwillig betten. Dann kocht er Wasser auf und gießt es über das gefrorene Hundefutter. Die Versorgung der Hunde übernehmen die Musher, ihre Begleiterteams dürfen sie nicht unterstützen. Das Hundefutter wird in Paketen vorausgeschickt, das die Musher dann von den Mitarbeitern an den Checkpoints ausgehändigt bekommen.
Während in Alta schon der Sieger und seine direkten Verfolger einlaufen, überprüfen in Karasjok die Veterinäre Hendrik Stachnaus Hunde. Am Ende reicht es nicht für ihn und sein Team – nicht genügend viele Hunde, also mindestens sechs, halten den strengen Tests der Tierärzte stand. Der Schnellste in diesem Jahr war der Schwede Petter Karlsson, er gewinnt das Rennen zum dritten Mal und brauchte sechs Tage, 19 Stunden und 35 Minuten für die Gesamtstrecke – im Schnitt 170 Kilometer pro Tag. Solche Leistungen kommen wirklich nur dann zustande, wenn alle in dieselbe Richtung wollen: nach vorne.
Der nächste Finnmarksløpet findet zwischen dem 7. und 16. März 2024 statt. Infos zum Ablauf auf finnmarkslopet.no/home-event-program/