"Was wird aus einer Heuschrecke über den Sommer?" fragt Bäuerin Renate und grinst spitzbübisch. Ihr Mann Hermann schaut mich erwartungsvoll an und lächelt unter dem ausgebleichten Sonnenhütchen hervor, auf seine ihm eigene zurückhaltende Art. Ich zucke ratlos die Schultern. "Eine Grumetschrecke!" sagt Renate triumphierend und lacht schallend. Ein Südtiroler Bergbauernwitz. Und den versteht eigentlich nur ein anderer Bergbauer auf Anhieb. Ich kann mitschmunzeln, weil ich schon drei Tage mit Renate und Hermann, ihren drei Kindern und Renates Eltern zusammen auf dem Stolpahof lebe.
Auf dem Bergbauernhof fließt der Schweiß in Strömen
Wir stehen auf einer der unglaublich steilen Wiesen, die zum Bergbauernhof auf 1665 Metern im Silvestertal hoch über Toblach im Pustertal gehören, und schieben trockenes Heu zu gewaltigen Wülsten zusammen, die dann zum schmalen Weg hinunterwandern, von Hand, weil Maschinen auf den abschüssigen Wiesen keine Chance haben. Eine Woche arbeite ich gegen Kost und Logis mit, vermittelt über die "Bergbauernhilfe", einen Verein, der Freiwillige für Bergbauernhöfe sucht, die eine Hilfskraft dringend nötig haben, sie sich aber nicht leisten können. Freiwillige unterstützen bei der Kinderbetreuung, springen in Krankheitsfällen ein, versorgen Altbauern bei gesundheitlichen Problemen – oder wollen einfach auf Zeit hineinschnuppern in das Leben auf einem Bergbauernhof, so wie ich.
Der Schweiß fließt mir in Strömen von der Stirn, das Heu juckt, Schultern, Arme und Rücken schmerzen von den ungewohnten Bewegungen mit dem Rechen. Die Außenkanten der Füße werden langsam taub, weil sie beständig auf dem schrägen Hang Halt suchen. Hin und wieder springt ein Grashüpfer davon, schwirrt eine Wespe umher, ringelt sich eine Blindschleiche hastig in Deckung.
Hermann bringt die erste Fuhre Heu mit dem kleinen Transporter weg; Renate und ich setzen uns auf die Wiese und ratschen, ich schaue dabei auf die grauen Dolomitengipfel rund um den 3211 Meter hohen Monte Cristallo jenseits des Tals. "Und nachher gehen wir auf einen Kaffee zu den Nachbarn, oder?" fragt Renate. Das sind ihre kleinen Auszeiten von der harten Arbeit: einen Kaffee trinken gehen am Nachmittag, im Gasthof fünf Minuten vom Bergbauernhof, und dort ein bisschen plauschen. Und freitags geht die Familie Pizza essen – da komme, was wolle. Hin und wieder kocht sie auch ein Mittagessen für befreundete Waldarbeiter, wenn die gerade in der Nähe einen Waldweg richten. Dann ist die gute Stube für eine Stunde fast zu eng für die Scherze und lauten, schnellen Reden im mir völlig fremden Südtiroler Dialekt. Und Hermann grinst stillvergnügt vor sich hin. "Die Bande" nennen Renate und ich unter uns den munteren Haufen. Gegen Ende meiner Woche erahne ich immerhin das jeweilige Thema. Auch Hermann verstehe ich anfangs schlecht, wenn er Dialekt spricht.
Eine Arbeit folgt auf die nächste
Ich helfe im Juli bei der ersten Heuernte aus. Die zweite Ernte, gegen September, wenn das Gras wieder nachgewachsen ist, heißt nicht mehr Heu, sondern Grumet. Und entsprechend werden dann Grumet- statt Heuschrecken vor den Rechen flüchten. Der Witz erzählt ganz nebenbei schon viel vom Jahresrhythmus auf dem Bergbauernhof: Nach der ersten Mahd kommt die zweite. Nach der zweiten Mahd kommt im Winter die Arbeit im Wald. Dann das Ausbringen des Kuhdungs auf den Frühjahrswiesen, dann die Zeit der Heuschrecken. Eine Arbeit folgt ganz selbstverständlich auf die nächste.
Der Tagesablauf auf dem Bergbauernhof
Auch mein Tagesablauf pendelt sich ab Tag drei fast von alleine ein: Um viertel nach sechs stehe ich auf, mit steifem Rücken. Im Milchraum neben dem Stall steige ich in Gummistiefel. Ein gemurmeltes Guten Morgen zu Hermann, der die Melkmaschine schon an die zweite Kuh anschließt. 60 Liter produziert der Stolpahof täglich. Begleitet von den Mahlgeräuschen der fünf zufrieden kauenden Kühe, scharre ich den Kuhdung der Nacht in der Rinne zusammen, schaufele alles auf eine braun verkrustete Schubkarre. Es ist ein Balanceakt: Wenn die Karre zu voll ist, wird es knifflig, sie zu wenden und über die Stallschwellen zu bugsieren. Fülle ich zu wenig auf, muss ich öfter gehen. Einmal überfahre ich mit der Karre beinahe eine der Hofkatzen.
Nach der Stallarbeit setze ich mich kurz zu Renate an den Frühstückstisch. Sie hat mir schon einen Espresso aufgesetzt. Müde wechseln wir ein paar Worte, bevor Renate losfährt. Sie putzt jeden Tag zwei Stunden unten im Tal. Und muss rechtzeitig zurück sein, um die 16-jährige Tanja zu ihrer Lehrstelle zu fahren. Sobald die Familie fertig gefrühstückt hat, die ältere Tochter Nadja zur Arbeit aufgebrochen ist und der elfjährige Tobias dem dazustoßenden Hermann bei seinem Morgentee Gesellschaft geleistet hat, räume ich den Rest vom Tisch und fege durch. Manchmal schaffe ich es noch, einen Korb Wäsche auf dem Balkon aufzuhängen, den die Oma unten immer wieder mit frischer Wäsche gefüllt nachschiebt, bevor ich vier der Kühe auf die Weide bringe – ein angenehmer Spaziergang von rund zehn Minuten. Das älteste der Hornviecher ist nicht mehr so fit und zu unsicher auf den Klauen, um auf der steilen Weide herumzuspazieren, gibt aber trotzdem ordentlich Milch. Oma und ich nehmen mit dicken Stöcken Aufstellung, damit die Kühe brav Richtung Weide marschieren, während Hermann sie losbindet. Am Freitag versucht eine zu entwischen. Hermann knallt mit der Peitsche nach ihr. "Madonna!" schreit er erbost die Kuh an. So laut habe ich ihn die ganze Zeit nicht erlebt.
Arbeit auf dem Bergbauernhof - Nichts für zarte Hände
Oft kommt mir auf dem Rückweg von der Weide schon Hermann mit dem Transporter entgegen, einem kleinen eckigen Wagen, der geschnittenes Gras und Heu in die Scheune bringt. Hermann senst sich dann durch den steilen Grashang, ich reche hinter ihm her alles auf den Weg, wir laden auf und bringen das Gras zum Hof. Meist geht Hermann weitermähen, während ich die Ladung feuchtes und schweres Gras in den Stall bringe. Meine Handflächen brennen, Hornhaut bildet sich. Blasen habe ich aber keine. Glück gehabt. "Selbst wir haben Blasen, wenn wir das erste Mal im Jahr Heu machen", sagt Renate am Anfang der Woche tröstend, als sie sich vom Balkon herunter erkundigt, wie es denn so geht.
Eine Transporterladung Gras reicht zusammen mit einer guten Menge Heu für abends, wenn die Kühe in den Stall traben, und fürs Kuhfrühstück tags darauf. Erstaunlich, welche Mengen die Viecher so wegfressen. Entweder marschiere ich anschließend wieder zu Hermann und wende das Gras von gestern. Oder ich gehe in den kleinen Gemüsegarten am Hof und zupfe Unkraut. Bei Pausen erwartet mich oft schon wieder ein Korb Wäsche, auf dass ich ihn mit hochnehme und aufhänge. Oder ich hänge zwischenrein eben trockene Wäsche wieder ab. Wenn "die Bande" über Mittag kommt, tragen Renate und ich gewaltige Schüsseln hin und her, während Oma in der Küche das Regiment führt. Waldarbeiter haben ordentlich Hunger, bringen dafür aber auch Erdbeeren für einen Nachtisch mit. Der Nachmittag vergeht mit Heuwenden – "kehren" sagen sie hier –, Heueinbringen, Gras zum Trocknen am Hang verteilen.
Auf dem Bergbauernhof leben, wirkt wie ein Reset für die Seele
Um 18 Uhr wollen die Kühe von der Weide geholt und mit dem Gras des Morgens gefüttert werden. Dung gibt es auch schon wieder. Fährt Renate weg – sie ist aktiv in verschiedenen Vereinen –, kümmere ich mich auch ums Abendessen. Mit Kücheaufräumen ist es dann so spät, dass ich mich rechtschaffen geschafft zurückziehe. Es tut gut zu spüren, was der Körper leistet, der sich sonst eher auf einem Bürostuhl fläzt. Und sich darauf zu besinnen, wie Milch und Fleisch produziert werden, wirkt wie ein Reset für die Seele. Über solchen Gedanken oder meinem Buch fallen mir meist nach einer Viertelstunde die Augen zu.
Donnerstag regnet es. Heukehren ist unmöglich bis unsinnig. Renate und ich putzen innen, dann meint sie, ich solle mich doch einfach in Toblach unten umschauen, jetzt, wo wir nichts tun können. Im Tal, in Toblach, fühle ich mich nicht ganz wie ein Tourist, aber auch weit entfernt davon, irgendwie einheimisch zu sein. Rasch kaufe ich Salatsetzlinge für den Stolpahof-Garten und fahre wieder zu meinem Hof hinauf. Am Gasthaus parken schon zwei Autos der Waldarbeiter. Ich halte und schaue in die Gaststube. Ein Bagger ist defekt, und die "Bande" nutzt die Wartezeit aufs Ersatzteil für eine gemütliche Einkehr. Renate ist auch da, alle haben fast erwartet, dass auch ich reinschaue. Ich setze mich auf ein Bier dazu. "Ihr zwei seid schon ein gutes Team", sagt einer der "Bande". Renate und ich grinsen uns an. "Wohl, wohl", sagt Renate, was die Südtiroler eben sagen, wenn sie "ja, doch" meinen. "Schad’, dass’d bald gehst", setzt sie hinzu. Ich nicke. Finde ich auch.
Am letzten Morgen habe ich den Kuhdung-Parcours perfektioniert und zirkele mit der schweren Schubkarre gekonnt aus dem Stall zum Güllebecken, nehme den exakt richtigen Schwung über die erste Schwelle, so dass gerade nichts überschwappt, ich aber sauber über den leichten Buckel hoppele, aber auch nicht zu fix, damit ich im engen Vorraum mit einem gewissen Flow die nächste Kurve bekomme. Der Schwung trägt mich über die zweite Schwelle, ins Freie und zum Entladen. Ein letzter Blick zur Cristallo-Gruppe. Die Dolomitengipfel schweben mit einer Federkrone aus Wolken über dem dicken Nebellindwurm im Silvestertal. Das Profane trifft an der dampfenden Grube direkt auf das Erhabene. Ein letztes Frühstück, ich treibe ein letztes Mal die Kühe zur Weide. Dann verabschiede ich mich von allen, bevor Renate putzen fährt. Oma steckt mir noch eine Schachtel Merci- Schokolade zu. Als ich vom Stolpahof rolle, springt eine Heuschrecke davon. Oder doch eine sehr frühe Grumetschrecke?