Den Tag, an dem ich grünes Licht für einen Artikel über den Lake District erhielt, habe ich im Kalender mit einem dicken Smiley versehen. Hierzulande mag England, anders als Schottland oder Wales, als Wanderziel kaum bekannt sein – auf der Insel sieht das anders aus. »The Great Outdoors« als britische Outdoor-Zeitschrift Nummer eins setzt den Lake District in ungefähr jeder zweiten Ausgabe auf den Titel, und Bergsteigerlegende Sir Chris Bonington feierte das Gebiet sogar in einem 144-seitigen Buch. Kurz ein paar nüchterne Zahlen: Der Lake District liegt im Nordwesten Englands, rund 130 Kilometer nördlich von Manchester, und endet südlich der Grenze zu Schottland. 16 Seen mit einer Größe von 0,2 (Brotherswater) bis knapp 15 Quadratkilometer (Windermere) gaben dem Gebiet seinen Namen, hinzu kommen noch viele kleinere, weniger bekannte Gewässer. Lakeland oder he Lakes, wie die Briten liebevoll sagen, bildet Englands größten Nationalpark, mit 2300 Kilometern etwa so groß wie das Saarland. Zu seinen über 200 Mittelgebirgsgipfeln gehört auch der höchste Berg des Landes, der Scafell Pike (978 m), und das Wegenetz von rund 3500 Kilometern bietet reichlich Touren für jeden Wandergeschmack.
In meinem Wortschatz existiert der Lake District seit der mäßig spannenden "Unit 4" eines Englischlehrbuchs in der Mittelstufe. Den Aha-Effekt brachte zehn Jahre später ein Ausflug beim Auslandssemester in Manchester. Ja – was waren denn das für Berge statt der erwarteten flachen Wiesen? Welch ein riesiger See dieser Derwentwater, mit Möwen und Wellen und Inseln, anstelle eines besseren Teiches! Was für entzückende Steinhäuser und Mauern, welch Freundlichkeit im Fish&Chips-Laden in der Kleinstadt Keswick. Binnen weniger Stunden war ich überzeugte Lakeland-Anhängerin.
Jetzt ist Herbst, und am Bahnhof von Windermere hole ich meine Schwester Gesche ab, um mit ihr ein paar Tage auf Wanderwegen die Gegend am weiter nödlich gelegenen Lake Derwentwater zu erkunden. (Nebenbei, Windermere liegt nicht direkt am gleichnamigen See, sondern rund anderthalb Kilometer entfernt. Geschicktes Tourismusmarketing: Um mehr Besucher anzuziehen, taufte man Birthwaite nach dem Bau der Eisenbahnlinie im 19. Jahrhundert in »Windermere« um.) Genauer gesagt geht die Reise ins Borrowdale, ein grünes, weites Tal ein paar Kilometer südlich des Derwentwater. Schmal schlängelt sich die Straße am Ende unserer Fahrt dahin, begrenzt von Hecken, rechter Hand liegt der See, linker Hand Waldhang. Zuvor haben wir viktorianische Steinhäuser passiert, die wirkten, als wären der Bewohner einzige Sorgen perfekter Rasen und guter Tee. Nächster Grund zur Freude: Ankunft beim Yew Tree Bed & Breakfast auf einer Schaffarm im winzigen Dorf Rosthwaite. Antikmöbel, Blümchenstoff und herrliche Ruhe erwarten den Gast drinnen. Und Wasserkocher auf den Zimmern – gelobt sei die britische Sitte, Unterkünfte grundsätzlich mit Teeservice auszustatten! Draußen dagegen entzücken uns Herdwick Schafe, eine hier seit 1000 Jahren heimische Art. Ihr Gesichtsausdruck erinnert an freundliche Teddybären, wirkt wacher als der von anderen Schafrassen.
Wanderung auf den Scafell Pike
Am nächsten Morgen, nach reichlich Baked Beans auf Toast, ruft der Berg. Und zwar Englands höchster Gipfel, der Scafell Pike (978 m). Drei Hauptrouten mit unterschiedlichen Ausgangspunkten führen hinauf, wer wie wir in Rosthwaite logiert, startet die Tour am besten im wenige Autominuten entfernten Weiler Seathwaite. Es nieselt ein wenig, aber das muss hier so sein für ein authentisches Erlebnis, denn diese Handvoll Häuser ziert der Superlativ "regenreichster bewohnter Ort des Landes". Unser Begleiter, der Bergführer Mark Scott, schlüpft gut gelaunt in seine Regenmontur. "Gibt es eigentlich ein Regengedicht vom großen Lake-Poeten?" Gemeint ist William Wordsworth, und die Frage, die Gesche stellt, ist berechtigt. Der berühmte Romantikdichter ließ sich oft von der Natur inspirieren, verfasste 1810 mit seinem "Guide to the Lakes" auch einen der ersten Reiseführer seiner Heimat – aber kein Regengedicht.
Neben uns rauscht der Derwentwater-Bach, noch verläuft der Weg eben durchs Tal. Links und rechts erstreckt sich offenes Weidegelände, das in gerundeten Fels übergeht, nordisch-karg. Schafe halten das Gras kurz, Bäume gibt es kaum. Mark lenkt das Gespräch auf einen weiteren, zumindest in englischen Outdoor-Kreisen berühmten Sohn des Lake Districts: Alfred Wainwright. Der verfasste Mitte des 20. Jahrhunderts handschriftlich(!) sieben "Pictorial Guides to the Lakeland Fells", mit Skizzen versehene Routenbeschreibungen auf 214 Gipfel. Zwar nutzen die meisten Wanderer heutzutage andere Bücher oder auch das reichlich in Tourismusbüros angebotene Material, aber das Wainwright-Werk dient nach wie vor als Grundlage vieler populärer Touren. Auch sammeln Ehrgeizige die 214 "Wainwrights" so, wie schottische Bergfreunde es mit ihren "Munros" tun, den über 3000 feet (914 m) hohen Bergen. Jedes Mal, wenn wir zum Fotografieren anhalten, zündet Mark gelassen seine Pfeife an. Das Hantieren mit Streichhölzern ist eine Leistung, denn mittlerweile bläst ein kräftiger Wind. Längst haben wir über die jahrhundertealte Stockley Bridge, eine steinerne Bilderbuchbrücke, den Bach gequert und das Tal hinter uns gelassen. Anders als dort unten überwiegen hier Beige- und Brauntöne statt Grün, und man fühlt sich an skandinavisches Fjell erinnert. Tatsächlich haben die Engländer die Bezeichnung the Fells von den Norwegern übernommen, und ähnlich wie dort formten auch hier Gletscher die Landschaft. Die Gesteine indes entstanden lange vor diesen Eiszeiten, unvorstellbare 400 Millionen Jahre ungefähr liegt es zurück, dass Vulkane den Scafell schufen. Als noch älter gilt der Skiddaw (931 m), dessen Schieferhänge sich nördlich über dem Lake Derwentwater erheben. Technisch einfache Wege führen hinauf und machen Englands nördlichsten Dreitausender – man rechnet schließlich in feet – zu einem beliebten Wandergipfel.
Dunkle, dicht getaktete Wellen kräuseln den auf Fotos meist spiegelglatten Bergsee Sprinkling Tarn, als wir sein Ufer erreichen – ein bizarr-schöner Anblick. Der Wind hat die Regenwolken vertrieben, intensiv leuchten gelbes Herbstgras und dunkle Felswände, während die Sturmleinen eines kleinen roten Zelts unweit des Sees extrem gute Dienste leisten. Das offizielle Zeltverbot wird nicht ganz ernst genommen ... Ernst nehmen sollte man dagegen den Hinweis, dass das Wetter hier oben sehr unbeständig ist. Von Minute zu Minute legt der Wind zu, man kann sich mit vollem Gewicht gegen ihn lehnen, ohne umzufallen. Nachdem Mark bei der nächsten Pause den am Boden liegenden Fotorucksack vorm Davonfliegen rettet, indem er sich mit einem riesigen Satz auf ihn wirft (er lässt dafür sogar seine Pfeife fallen), gibt er einen ernüchternden Rat: auf Scafell Pike zu verzichten. Am Gipfel seien die Sturmböen noch extremer. "So viel besser ist die Aussicht oben auch nicht", fügt er tröstend hinzu. Ich schlucke meine Enttäuschung herunter, nach Wochen der Vorfreude. Wenn man sich eine Eigenschaft von englischen Outdoorern abgucken sollte, ist das ihre humorvolle Gelassenheit.
Stunden später, zurück in Rosthwaite, stürmen wir nicht unter die heiße Dusche, sondern in den Pub. Was gibt es Besseres, als sich nach einem Herbsttag draußen auf eine gepolsterte Sitzbank sinken zu lassen, in dieser urgemütlichen Atmosphäre britischer Kneipen?
Beste Jahreszeit
Von Mitte Mai bis Ende Oktober besitzt jeder Monat im Lake District seinen Charme. Zur Sommerferienzeit (Juli/August) wird es relativ voll. Auf plötzliche Wetterumschwünge und Regen sollten Wanderer immer eingestellt sein.
Anreise
Am bequemsten reist man per Flugzeug nach Manchester, zum Beispiel mit Lufthansa (lufthansa.com), Easyjet (easyjet.com) oder SAS (flysas.com). Die Preise für einen Direktflug liegen bei frühzeitiger Buchung bei 150 Euro. Weiter entweder per Mietwagen (etwa zwei Stunden Fahrt, je nach Zielort) oder per Bahn (tpexpress.co.uk) nach Windermere. Von Windermere fährt Bus Nummer 555 nach Keswick und Bus Nummer 78 weiter nach Rosthwaite/Borrowdale.
Als erste Anlaufstelle für Englandinteressierte bietet sich www.visitengland.com an; jede Menge Lake-District-Infos, auch zu Unterkünften, findet man unter lakedistrict.gov.uk.
Wer sich über die Kleinstadt Keswick und ihre Umgebung informieren möchte, surft zu www.keswick.org
Weitere Tipps für Lake-District-Wanderer:
- Wer über Manchester anreist, sollte dort einen oder zwei Extratage erwägen. Die Stadt begeistert mit vielfältiger Architektur, Kontrasten von modern und historisch, reicher Kulturszene sowie vielen Restaurants (www.visitmanchester.com)
- Ein "Lake Cruise" lässt sich wunderbar mit einer Wanderung über den Catbells-Hügel am Derwentwater verbinden. Infos und Fahrpläne: www.keswick-launch.co.uk
- Mehr als Tee und Gebäck: Auf einer dreistöckigen Etagère werden kleine Sandwiches, Scones (eine Art Rosinenbrötchen) mit Sahne und Marmelde sowie Kuchen serviert. Gibt‘s in vielen Cafés und Hotels
- Aus der Wolle der im Lake District heimischen Herdwick-Schafe werden Produkte vom Pullover bis zum Teppich gefertigt. Als Überblick für Anlaufstellen dient www.herdwick-sheep.com
Restaurant- und Übernachtungstipps:
Pub im Scafell Hotel
Nicht vom Namen oder der Homepage irritieren lassen: Dieser bodenständige Pub in Rosthwaite bietet leckere Fish & Chips und regionales Bier. www.scafell.co.uk/the-riverside-bar
Nobel-Pub
Das Langstrath Country Inn in Stonethwaite im Borrowdale serviert neben traditioneller Pubkost auch Gerichte wie Kürbisgemüse mit Parmesanrisotto. www.thelangstrath.com
Bed & Breakfast
Die Yew Tree Farm im Borrowdale bei Lake Derwentwater ist ein B&BParadebeispiel: ruhig gelegen, urgemütlich, üppiges Frühstück. DZ mit Frühstück für 80 GBP (ca. 100 Euro), borrowdaleyewtreefarm.co.uk
Jugendherbergen
Eine günstige Alternative zu Hotel oder B&B sind Youth Hostels: etwa in Longhtwaite im Borrowdale (Zimmer ab 45 GBP) oder in Keswick (Zimmer ab 39 GBP). Info: www.yha.org.uk
Ferienwohnung
Wer ein eigenes »Heim« möchte, nimmt eine Ferienwohnung – etwa das Nook Cottage in Rosthwaite mit drei Schlafzimmern und kleinem Garten. Ab 445 GBP (ca. 550 Euro) pro Woche. Info: www.sykescottages.co.uk