Niederschlag seltener als gedacht, eine Landschaft, wie man sie von Zuhause nicht ansatzweise kennt, Sonne und Wind, berauschende Ausblicke und Felsabenteuer der Extraklasse: Schottland eignet sich hervorragend für Kletterreisen per Rad. Hier gibt's die wichtigsten Infos – und weiter unten die Story zur Reise.
Die wichtigsten Infos zum Klettern und Radreisen in Schottland
Charakter: Schottland und die nördlich gelegenen Orkney Inseln lassen das Kletterherz freudig höherschlagen: Sie bieten Felsen und Routen in allen Graden und jeglichem Standard. Ob Sportklettern, Tradrouten, Bouldern, minikurz oder fast alpine Dimensionen: Dort ist für alle etwas dabei. Die Kletterspots liegen bunt verstreut in den Highlands und an der Küste. Um die Felsen zu erreichen, sind längere Fußmärsche eher die Regel als die Ausnahme. Allein schon deshalb bietet sich die Nutzung eines geländegängigem Fahrrads an. Was hier zählt, ist das Gesamterlebnis.
Klima: Beständige Unbeständigkeit taugt als Charakterisierung sehr gut, typisch sind schnelle Wechsel, wie bei uns im April bekannt: Auf Sonne folgt Regen und umgekehrt. Für stabiles, gutes Wetter braucht es Glück, Wettertoleranz ist daher für Urlauber eine unabdingliche Tugend. Ohne wasserdichte Bekleidung und entsprechendes Schuhwerk wird man schnell frustriert sein.
Material: Mit zwei kompletten Sätzen Stopper und Cams (Cam 5 & 6 einfach) ist man auf der sicheren Seite. Denn das Einrichten von Abseilstellen und/oder der Standplatzbau in Mehrseillängenrouten (zwei Standplätze!) verschlingt Berge von Gear. Auf dem Festland genügen in der Regel Halbseile von 50 Meter Länge. Wer ohne gefährlich komplizierte Manöver vom Old Man of Hoy, Am Buachaille, und Old Man of Stoer herunterkommen möchte, hat zwei 60-m-Seile an Bord. Vierfachlange Schlingen sowie Kevlar- oder Dynemareepschnur-Meterware sind bei Standplatzbau & Co. unabdingbar. Wasserdichte Säcke halten bei Schwimmeinlagen Seile und Ausrüstung trocken.
Fahrrad: Ein Mountainbike mit breiten Reifen verkürzt viele Fußzustiege. Mit unseren eBikes mussten wir beim Streckemachen bisweilen einen Ladezwischenstopp einplanen. Strampeln im Eco-Mode war allerdings eh der Standard.
Anreise: Schottland ist mit allen Verkehrsmitteln zu erreichen. Wer by fair means mit dem Rad anreisen möchte, bucht (rechtzeitig) ein Bahnticket mit Fahrradstellplatz. Die bequeme Route mit Fähre von Amsterdam nach Newcastle erspart zahlreiche Zugwechsel. Leider ist die Online-Buchung der Radmitnahme bei Scot-Rail bis dato nicht möglich. Wir haben gute Erfahrungen mit der Reservierung vor Ort und per Telefon (ScotRail +44 (0)344 811 0141) gemacht. Achtung: Fahrradplätze in den Zügen sind limitiert.
Midges: Ein Moskitohut gehört zur Pflichtausstattung. Er hilft bei der Prävention gegen gereizte Stimmung.
Tidenhub: Bei Seaclimbs entscheiden Ebbe und Flut über Wohlergehen oder Desaster (www.tideschart.com). Entsprechend ist auch der Seegang ein absolut wichtiges Kriterium, ob eine Tour geht oder eben nicht. Genügend Puffer für die Rückkehr ans sichere, höher gelegene Ufer einplanen.
Camping: Es lebe Schottland! Der Scottish Outdoor Access Code erlaubt Wildcamping und Wildzelten auf nicht eingezäunten Flächen und "in einem geeigneten Abstand" außerhalb der Sichtweite zu Häusern und historischen Hinterlassenschaften. Übersicht der kommerziellen Campings: www.scottishcamping.com. Bed & Breakfasts (B&B = Pension) sind in der Hauptsaison im Juli und August oft ausgebucht. Mit dem Zelt ist man maximal flexibel.
Führer: Scottish Rock Climbs von Wired Guides (Preis: 46 Euro) enthält knapp 1800 Trad- und Sportkletterrouten in ganz Schottland. Eben nur die Besten! Kletterführer hier direkt im klettern-Shop bestellen
Story: Bike & Climb in Schottland
Ziehe von Plan A über B nach Plan C
Im Sommer 2023 reihen sich auf deutschen Bahnsteigen ernüchternde Momente aneinander, wie sonst die Verspätungsmeldungen der Züge. Unser Plan "England by fair means" versinkt in der überbordenden Nachfrage auf das Neun-Euro-Ticket. Die Komplexität der Buchung eines Zugtickets, inklusive Fahrrad mit Anhänger versteht sich, lässt unsere großen Träume platzen. Wohl dem, der einen Plan B hat: Dann eben doch mit dem Auto nach Britannien mit gechilltem Eingrooven auf dem Dekmantel-Festival in Amsterdam – ganz großes elektronisches Musikfestivalkino. Von dort mit der Fähre nach Hull, quasi genau in die Mitte Großbritanniens, dann quer rüber nach Westen ins Paradies, den Peak District.
Beim regelmäßigen Blick in die Wettervorhersage verfestigt sich eine Tendenz: Ganz weit oben auf den Britischen Inseln, in Schottland, lockt tatsächlich Sonne. Eindeutig bessere Bedingungen als im Peak. Aus Plan B wird flugs Plan C: So weit es geht, fahren wir mit der Fähre hoch nach Norden. Unserer maladen Verfassung geschuldet, soll der Caddy irgendwo in den Highlands stehen bleiben. Bis da hin ist er unser fahrbares Sanatorium. Holland verabschiedet uns mit Regenwetter und Sturm – es kann nur besser werden. Das kostenlose Upgrade von der Innen- zur Außenkabine erweist sich dabei als Fügung. Beim Blick durch das Bullauge auf den hin und her schaukelnden Horizont werden Innenohr und Kleinhirn klar, woher die 3D-Ganzkörpermoves rühren. Besser nicht ans Abendbuffet denken, ganz ruhig atmen. Konzentration, Blick zur Kabinendecke. Irgendwann fallen wir in einen unruhigen Schlaf.
Das Meer kann natürlich auch anders: Flaute. Am Morgen grüßt die englische Küste, wollig weich eingepackt in einen milchigen Schleier. Bei der Einfahrt in den Fjord von Newcastle empfängt uns gleißender Sonnenschein. Is this real, is this Britain? Beim überlebensnotwendigen Turbo-Umlernen auf Linksverkehr wird schnell klar: "Ja!" Gut, wer eine aufmerksame Beifahrerin hat. Nordwärts, husch, husch, vorbei an Edinburgh, ab in Richtung Cairngorms. Dort, in den Highlands, warten einige der abgelegensten und einsamsten Kletterperlen, die man sich in Europa vorstellen kann. Leider ist die Erkältung hartnäckig. Also klein anfangen und besser noch Lowlands statt Highlands.
Endlich, nach weiteren drei Tagen, geht‘s los. Einklettern am Garbh Choire. Die Beschreibung der Route Squareface (VS) macht uns an. Nach schlappen 12 Kilometern Zustieg steht man zwar noch nicht am Fels, dafür immerhin an einem lauschigen Bächlein. Ein ideales Basecamp. Vermeintlich. Mit der Schottendämmerung kommen die Midges! Neben dem Regen die zweite Geißel der Insel. Alles Fuchteln und Fluchen hilft rein gar nichts. Die kleinen Plagegeister sind in gnadenloser Überzahl: Millionen gegen Zwei. Nur zur Garkontrolle kurz den Deckel hoch, und schon haben die veganen Tortellini eine satte Fleischeinlage. Lektion 1: Nicht die geschützteste Stelle ist der beste Platz. Kuppen, voll im Wind, sind die Premiumplätze. Gute Nacht.
Im Land der schnelle Winde
Der Folgetag ist ein Geschenk. Weit- und Tiefblicke in eine Landschaft, wie wir sie von Zuhause nicht ansatzweise kennen. In jedem Moment rechnet man mit Regen, und wird ein ums andere Mal getäuscht. Wolken in allen erdenklichen Formen streifen die Berge: Einzelne kleine, große, ganz viele auf einem Haufen wabernde ziehen derart schnell vom Meer übers Land, dass keine Zeit zum Aufsteigen bleibt. Niederschlag bringen sie seltener als gedacht. Dafür außergewöhnliche Lichtstimmungen. Wir jubeln, weil auch unsere Route ihrem Namen alle Ehre macht: quadratisch, praktisch, supergut. Der riesige Fels scheint dem Drehbuch von Game of Thrones zu entstammen. Bereits jetzt ist sie spürbar, die heilende Wirkung der menschenleeren Weite. Strammer Hochlandwind pfeift um unsere Ohren, aber drinnen kehrt Ruhe ein. Jetzt dürfen größere Aufgaben kommen.
Wir haben unsere Midges-Lektion gelernt, sind klettermäßig eingegroovt und die Fair Means rufen! Mitten in den Highlands, am Bahnhof in Aviemore, darf der Caddy zwei Wochen auf uns warten. Scotch Railway bringt unseren kleinen Konvoi, zwei mächtig beladene eBikes und einen Fahrradanhänger, nach Thurso. Wenige Pedalumdrehungen weiter, im Fährhafen von Scrapster, herrscht Reeperbahn-Stimmung en Miniature. Im Popeyes-Pub der erste Blickkontakt mit unserem Ziel. Das famose Etikett des Orkney Gold nimmt uns die Entscheidung Welches Bier? ab. "Two pints please!" Dazu brüllend laute Musik. Was für eine Einstimmung! Schnell zur Fähre. Leinen los. Schiff Ahoi. Nach gut einer Stunde drängen wissende Passagiere ans Oberdeck. Man bringt sich auf der Steuerbordseite in Stellung. Die MV Hamnavoe bekommt Schlagseite. Gefühlt im Schneckentempo, und doch viel zu schnell, zieht der majestätische Old Man an uns vorbei. Klick. Klick. Milliarden von Photonen werden in Elektronen umgewandelt. Ich vorne dran. Ja, ganz klar: Da müssen wir hoch!
Klippen, Halfstacks und ein alter Mann
Stromness, eine ehemalige Wikinger- und Walfängersiedlung auf Mainland, der Hauptinsel der Orkneys, empfängt die Ankömmlinge spätabends und gnädig. Kein Regen, kein Sturm. Der Hunger treibt uns nach dem Einchecken im Orca-Bed-and-Breakfast ins Gasthaus Ferry-Inn. Fish & Chips sowie weitere Pints des Orkney Gold sorgen für Tiefschlaf. Weitergeträumt wird am nächsten Tag: Mit dem Rad gehts zur Westküste. Die Routen in Yesnaby an der Westküste, einem Klettergarten ohne Haken, erlauben ein weiteres Herantasten an die große Aufgabe. Maximal 30 Meter hohe Klippen mit Miniaturbuchten und ein amtlicher Seastack, das Castle of Yesnaby, sollen dafür herhalten. Am Halfstack des Castle of Qui Ayre werfen wir einen Blick ins Krähennest (Crows Nest, VS, 4c). Variety Show verlangt dann das nächste Level: HVS, 5a. Der Zustieg serviert gleich mal die nervliche Crux: Ein im Gras steckender Eisenstab am Ausstieg dient als Abseil-Fixpunkt. Verdon-Feeling, ohne Bolts wohlgemerkt, trifft Autosuggestion at its best: Wir sind nicht die Ersten und werden hoffentlich nicht die Letzten sein. Die Route selbst ist ein Traum, perfekt absicherbar. Für das mächtig lockende Castle ist es leider zu spät.
Von Stromness aus beginnt am nächsten Morgen der Trip zur Insel Hoy. An Bord der kleinen Nussschale ein buntes Stelldichein von Hoy-Fans. Wie es scheint, sind wir die einzigen Kletterer und werden mit einer Mischung aus Neugier und Unverständnis begutachtet. Über einen kleinen Pass – danke eBikes! – geht’s zum Basecamp in der Rackwick Bay. Das Selbstversorgerhaus aus grauem Stein offeriert Platz für Komfort-Asketen. Immerhin: Eine Toilette ist im Angebot.
Schöner ist die angrenzende Wiese, wo eine Steinmauer vor dem pausenlos pfeifenden Westwind schützt. Kaum dass unser Zelt steht, brechen wir zum Old Man auf. Leicht ansteigend führt der Pfad aus der Bucht nach Norden, hinauf auf die sich immer höher reckenden Klippen. Endlich, an der höchsten Stelle des Wegs, kommt er in Sicht: Der Old Man of Hoy erhebt sich keck über die Küstenlinie. Die Aussicht beschleunigt unsere Schritte. Schließlich stehen wir leicht oberhalb, direkt gegenüber dem Turm. Sein Anblick jagt unseren Puls hoch, und der folgende Zustieg erst recht. Ein rutschiger Pfad schlängelt sich ausgesetzt und keinen Fehltritt verzeihend durch die Klippen hinab.
Den OLD MAN OF HOY klettern
Huiuiui – was für ein Gerät! Ehrfürchtig wandern unsere Blicke von der Gratschulter, die den Einstieg vermittelt, langsam nach oben. Zum Glück ist die Kletterei bis zum ersten Stand leicht und gutmütig. Ein ideales Warm Up. Vom Stand heißt es mehrere Meter abklettern, für den Seilzweiten eine delikate Passage. Dann folgt ein kurzer, luftiger Quergang nach rechts in die Ostwand. Gut für den Teamgeist, wenn der Vorsteiger das zweite Halbseil möglichst weit oben zum ersten Mal klippt. Nach der Querung ist die Ausgesetztheit gewaltig. Ein Rückzug wäre komplex. Nicht drandenken, sondern der Linie folgen, die der Fels unmissverständlich vorgibt: Das ultimative Gebrauchsmuster aus dem Verschneidungsbilderbuch inklusive eines Risssystems in XXL. Große Cams nimmt der breite Spalt willfährig auf. Wer den zweiten Stand an der Nordostecke erreicht hat, hat die berühmte gemähte Wiese vor und das Schwierigste hinter sich. Wobei: Wiese? Das wäre zu despektierlich. Zwei stark gegliederte Seillängen, die an große Pfalzwege erinnern, leiten an den Fuß der Abschlussverschneidung, die den Gipfelaufbau in zwei Türme gliedert. Ein breiter Spalt gibt den Blick frei, hinaus aufs Meer. Begeisternde Kletterei lässt uns gefühlt auf den Gipfel schweben.
Dort, gut 150 Meter über dem Meer, sind wir dem Himmel näher als der Erde, dem Wasser sowieso. Der Ausblick ist berauschend. Im Norden und Osten grüßen die hohen Klippen von St. Johns Head, in der Ferne, im Süden, die Schottische Küste und im Westen Amerika. O.k., hinterm Horizont. Die späte Stunde vertreibt uns vom Gipfel. Für die komplexe Abseilerei sollte ausreichend Zeit veranschlagt werden. Dass 60-Meter-Seile helfen, wurde bereits in der Heimat recherchiert. Vorausgesetzt, sie verhaken sich nirgends, beschleunigen sie die Rückkehr zum Boden ungemein. Die letzte Abseillänge ist dann nochmal überaus spektakulär: Am sicheren Grund angelangt hält man den letzten Seilzipfel in der Hand. Der Rückweg, hinauf auf die Klippe und zurück zum Zelt und in den Schlafsack, zieht sich.
Nächstes Mal by fair means
Nach der Besteigung des Old Man geht es zurück auf die Hauptinsel. Dort sind wir ob unseres Coups euphorisiert, vielleicht auch etwas verpeilt. Oder liegt es am Orkney Blast, einem weiteren höchst leckeren Gebräu, das unsere Synapsen verklebt? Wie auch immer: Wir verpassen einen Tag später, frühmorgens, die allererste Fähre zurück nach Scrapster. Mit der zweiten klappt es. Unsere Radroute führt nun entlang der Küste nach Westen. Die Strecke ist spätestens nach dem aufgelassenen Kernkraftwerk ein Paradies für Radreisende, bevor sich dann die weiße Seuche ausbreitet: In Schüben quetschen sich Wohnmobile über enge, einspurige Straßen. Gut, dass sich deren Bewohner am frühen Abend zu Herden sammeln. Wer danach, zu später Stunde, radelt, wird von Ruhe und Weite verwöhnt.
Sechs Tage nach dem Old Man stehen wir auf dem kecken Am-Buachaille-Gipfel, Schwimmeinlage inklusive. Seastack Nummer Zweieinhalb. Von unserem Basislager in Allans Retro-Caravan in Kinlochbervie aus erkunden wir die Klippen von Sheigra samt der laut Reiseführer schönsten Bucht Schottlands: Sandwood Bay. Schaut es euch selber an. Uns jedenfalls hat Schottland längst in seinen Bann gezogen.
Die letzte und längste Radetappe führt über Kinloch nach Lairg zur Bahnverbindung. Fazit: Der Abschied fällt schwer! Wir kommen wieder, der Old Man of Stoer wartet. Dann by fair means. Großes Ehrenwort!
Mehr: