Das Pfeifen der Murmeltiere übertrumpft das Pfeifen des Windes nur schwach. Fast lautlos bewegen wir uns durch die schroffe Bergwelt der Hohen Tauern, dichter Nebel dämpft alle Geräusche. Irgendwo hinter unseren Rücken erhebt sich die Flanke des Großglockners, doch in dieser Suppe kann man sich seinen 3798 Meter hohen Gipfel nur herbeidenken. »Das haben wir davon. Es ist so früh, dass es fast noch spät ist, und man sieht so wenig wie unter der Bettdecke«, muffelt meine Reisegefährtin Christina.
Wir werden noch in den Genuss von weiten Aussichten kommen, so viel kann ich Christina versprechen. Drei Wochen Wanderabenteuer liegen vor uns, ein langer Weg – und doch nicht genug, um den Alpe-Adria-Trail komplett zu gehen. 690 Kilometer umfasst dieser 2012 eröffnete Fernwanderweg, führt durch drei Ländern und drei Kulturen. 38 Tage sind dafür angesetzt. Vom Alpenhauptkamm am Fuß des Großglockners in Österreich geht es zu den sanften Hügeln des Nationalparks Nockberge, bevor der Weg dem türkisblauen Wasser der slowenischen Soca folgt und schließlich am Mittelmeer im Fischerdorf Muggia bei Triest in Italien endet.
Alpe-Adria-Trail: Auf den Spuren von Legenden
Etwas ausgesetzt steigen wir die steilen Serpentinen entlang der Pasterze hinab, dem mit neun Kilometern Länge mächtigsten Gletscher der Ostalpen. »Der Gletscher hat Belag auf der Zunge«, kommentiert Christina die vom Wind zerrupften hellgrauen Nebelschwaden, die sich an der von Moränen gesäumten Gletscherzunge entlangtasten. Romantikern wie Caspar David Friedrich wären bei diesem Anblick sicherlich die Freudentränen in die Augen geschossen. Ich muss meine zusammenkneifen, der Wind feiert seinen Auftritt.
Nach einem einstündigem Abstieg kehren wir den Eismassen den Rücken zu. Über einen leicht abschüssigen Hang geht es in Richtung Heiligenblut, das von der Römerzeit bis ins 17. Jahrhundert hinein das ergiebigste Goldabbaugebiet in Europa war. Sein Name stammt Legenden zufolge von einem Fläschchen mit dem Blut Christi, das sich Briccius, ein dänischer Prinz, um das Jahr 914 in die Wade hineinwachsen ließ, um es vor Räubern zu schützen. Nachdem er von einer Lawine verschüttet wurde, wuchsen drei Ähren aus seinem Bein, wodurch man seinen Leichnam und die Blutreliquie entdeckte. Das Fläschchen liegt seither in der Pfarrkirche des Heiligen Vinzenz.
»Ich kann heute kein Blut sehen«, sagt Christina. Also keine Kirchenbesichtigung – soll mir recht sein, zumal der Himmel sich zunehmend verdunkelt. Schnellen Schrittes lassen wir Heiligenblut hinter uns. Vorbei an spiegelnden Bergseen und sprudelnden Bächen führt der Weg immer tiefer hinab ins Tal der Leiter. Dort ändert sich die Landschaft unübersehbar: Dank hohem Gras, Büschen und Tannen erscheint die zuvor eher graue Bergwelt auf einmal in sattem Grün, ganz als habe jemand dem Fuß des Tales einen neuen Anstrich verpasst. Darüber vereinen sich düstere Wolken zwischen den Berggipfeln, doch der Guss lässt auf sich warten. Wenig später sprudeln andere Wassermassen, ehrfürchtig geht der Blick nach oben: Aus 130 Metern Höhe kracht der Jungfernsprung in die Tiefe, ein gigantischer, weiß schäumender Wasserfall. Alpenschauspiel vom Feinsten!
Wasser-Freuden: Millstätter See, Faaker See & Soca
Kärntens zweitgrößtes Gewässer, der Millstätter See, ist an Tag zehn der Tour erreicht. Und damit eine lieblichere Gegend als beim Auftakt des Alpe-Adria-Trails, wie sich hinter dem Etappenort Seeboden zeigt. Zwischen den sanft gerundeten Kuppen der Nockberge durchwandern wir taubehangene Almwiesen. Sonnenstrahlen zaubern Wechselspiele aus Licht und Schatten auf leuchtend grüne Weideflächen. »Irland lässt grüßen«, findet Christina, und sie hat, von der Höhe der Berge abgesehen, nicht unrecht. Kühe versperren anfangs den Weg zum Gipfel des Tschiernock (2082 m), ihre Mäuler glänzen mit der Oberfläche des Millstätter Sees im Tal um die Wette. Mit zunehmender Höhe spürt man die Kraft der Sonne immer stärker, und Christina reibt ihre Arme mit Sonnencreme ein. Ein leichter Wind wiegt die Lärchen und Zirben, ein Bartgeier dreht erhaben seine Runden. »Bartgeier, Murmeltiere, Rotwild, Steinböcke und Gämsen sind Kärntens Big Five, die bekommt man oft zu Gesicht«, hat die Wirtin beim Frühstück erzählt. Uns fehlen jetzt nur noch Rotwild und Steinböcke.
»Spring rein, es ist warm!« Mit diesen Worten lockt mich Christina einige Tage später in den türkisfarbenen Faaker See. Um sie herum steigen Luftblasen auf, und ihr perfekter Rückwärtssalto vom Steg – sie war Turmspringerin – hat die Blicke eines Rentnerpaars vom Mittagskogel (2145 m) abgelenkt. Pyramidenförmig ragt der Berg an der österreichisch-
slowenischen Grenze auf; sein Gipfel, der jetzt rosa in der Abendsonne erstrahlt, gehört zu beiden Ländern. Wie ein Meisterwerk naturalistischer Aquarellmalerei spiegelt sich die Szenerie auf der Wasseroberfläche. Der See wirkt klein, ist aber so groß wie 340 Fußballfelder. Und ebenso wie der Mittagskogel in Privatbesitz: Im Jahr 1918 verkaufte Fürst Friedrich von Liechtenstein den See an Ludwig Wittgenstein, einen Onkel des berühmten Philosophen. Die zwei Mädchen, die Wittgenstein dann adoptierte, sind Vorfahren der heutigen Besitzer.
Paradiesisch schön ist es nicht nur am Faaker See, sondern auch 60 Kilometer südwestlich im Tal der Soca. Der Fluss entspringt einer Karstquelle in den Julischen Alpen in Sloweniens Nordwesten, bevor er 136 Kilometer weiter südlich als Isonzo in die italienische Adria fließt. An der Kante einer Schlucht, in deren Tiefe die smaragdgrüne Soca wie flüssiger Edelstein durch weiße Kalkflure schießt, strecken wir uns auf warmem Fels aus und bewundern sie in Ruhe. Neben seiner Schönheit sind es die Stromschnellen, Kehrwasser und Wellen, die Klammen und Canyons, die den Fluss zum weithin bekannten Paddlerziel machen.
20 Kilometer folgen wir der Soca Richtung Bovec, zu unseren Füßen sprudelt das Wasser, die letzten Ausläufer der Karawanken liegen in unserem Rücken. Die Bergzüge erreichen immerhin Höhen bis 2400 Meter, sind mit pittoresken Karsthöhlen durchsetzt und laden zum Klettern ein. Ich wünsche mir Seil und Gurt herbei, während Christina eine Gumpe in zehn Meter Tiefe anpeilt und Turmspringerfantasien murmelt: »Hier einen gehockten Delfinsalto runter ...« Doch unser Badeversuch fällt ultrakurz aus, trotz Sommerhitze ist das Wasser eiskalt. Wohler als wir fühlen sich darin diverse Fische, laut Wanderführer auch Giganten: Bis zu 1,20 Meter lang und 30 Kilogramm schwer können »Marmorata« werden, die größte Forellenart der Welt.
Kanubeladene Autos, die uns entgegenkommen, zeugen vom Ende der Einsamkeit an unserem Zielort Bovec. So gerne wir zur Adria gewandert wären, so sehr drängen uns Diplomprüfungen in die Heimat. »Nach dem Diplom kommen wir mit Kletterschuhen wieder«, beschließt Christina, stellt die Wanderschuhe beiseite und schlüpft in ihre Flipflops. Wer weiß, ob wir das wirklich tun werden. Aber die Aussicht aufs Wiederkommen mindert am Urlaubsende stets die Wehmut.
Alpe-Adria-Trail: Der Weitwanderweg im Überblick
Etappe 1–10: Hohe Tauern – Nockberge
149 km 58 h Hm: 7200 im Aufstieg 8850 im Abstieg: Hochalpin beginnt die Tour unterhalb des Großglockners und führt zunächst bergab: Von der Pasterze, dem längsten Gletscher der Ostalpen, nach Heiligenblut. Nach mehrtägiger Wanderung durch das Mölltal locken fantastische Aussichten auf den Millstätter See im Nationalpark Nockberge.
Etappe 10-21: Nockberge – Julische Alpen
195 km 63 h Hm: 8950 im Aufstieg 9750 im Abstieg: Von den Grashügeln der Nockberge leitet der Weg hinab zur Kärntner Seenlandschaft. Unbedingt Zeit zum Baden im Faaker See einplanen! Sein warmes Wasser vor der Bergkulisse der Karawanken sorgt für feinstes Urlaubsflair.
Etappe 22–30: Julische Alpen – Triglav
174 km 53 h Hm: 7100 im Aufstieg 7900 im Abstieg: Diese Etappen führen durch die kalksteinreiche Bergwelt des Triglav-Nationalparks in Slowenien. Besonders reizvoll: Etappe 24 zwischen Trenta und Bovec entlang der Soca. Bis zu 15 Meter über der Schlucht schlängelt sich der Pfad, türkisblaues Wasser kontrastiert mit weißen Felsen.
Etappe 31–37: Triglav – Friaul-Julisch-Venetien
131 km 42 h Hm: 3400 im Aufstieg 3500 im Abstieg: Benvenuto en Italia! Die letzten Tage sind höhenmeterarm, aber abwechslungsreich. Zunächst geht es auf sandigen Böden durch das Weinbaugebiet Brda, ab Etappe 33 führt der Weg über das schroffe Triestiner Karstplateau. Zu Füßen liegt der Golf von Triest.
Verlängerung: Dreiländereck-Variante
90 km 6 Tage Hm: 4850 im Aufstieg 4950 im Abstieg: Als Alternative führen sechs Etappen westlich vom Faaker See in die Karnischen Alpen. Sie treffen bei Kranjska Gora (SLO) wieder auf die Hauptroute.
Video: Alpe-Adria-Trail
Reiseinfos: Alpe-Adria-Trail
Hinkommen: Der Alpe-Adria-Trail beginnt an der Kaiser-Franz-Josefs-Höhe (2369 m) am Fuße des Großglockners in Kärnten. Wer mit dem Auto statt per Bus hinauffährt (nationalpark-hohetauern.at/wanderbus, postbus.at), nimmt die Großglockner Hochalpenstraße – unbedingt checken, ob sie geöffnet ist (grossglockner.at). Die 33 Euro Maut beinhalten auch die Parkgebühren.
Charakter: Der in 37 Etappen unterteilte Fernwanderweg führt auf 690 Kilometern Länge durch Österreich, Slowenien und Italien. Auf der Homepage des Weges ist von 43 Etappen die Rede; dort ist die Extrarunde bei Villach einbezogen. Die Etappen umfassen jeweils rund 20 Kilometer, sind technisch überwiegend einfach und mit Gehzeiten von ca. sechs Stunden auch für weniger geübte Wanderer gut zu bewältigen. Einige Abschnitte, vor allem entlang der slowenischen Soca, erfordern etwas Trittsicherheit.
Orientieren: Der Alpe-Adria-Trail ist bestens markiert, Wanderkarten (Kompass, 1: 25000) gehören dennoch ins Gepäck. Nützlich: der Wanderführer Alpe-Adria-Trail vom Bergverlag Rother, 14,90 Euro.
Surfen: Auf alpe-adria-trail.com gibt es Beschreibungen aller Etappen inklusive Übersichtskarten und GPS-Download. Telefonisch berät die Urlaubsinformation Kärnten, Tel. 0043/(0)427/452100.
Equipment
Hüttenschlafsack: In vielen Berghütten ist der dünne Schlafsack Voraussetzung, um dort zu übernachten. Beispiel: Cocoon CT46-0 aus Bio-Baumwolle, 460 Gramm, 26,95 Euro.
Wasserdichte Wertsachenverwahrung: Plötzliche Schauer sind in den Alpen keine Seltenheit – gut, wenn Papiere, Handy etc. wasserdicht verpackt sind. Nützlich zeigt sich das Aloksak ITM Set mit Ziploc-Verschluss, 11,95 Euro.
Feierabendschuhwerk: Flipflops sind gut, Latschen ohne Zehensteg noch besser: Man kann sie auch mit Socken tragen. Nur nicht mit weißen.
Windstopper-Softshell: Eine winddichte, möglichst atmungsaktive Schutzschicht, die Bewegungsfreiheit gewährt, ist quasi Pflicht. So braucht man weniger Kleidungsschichten, bleibt warm und leistungsfähig.