Jemand muss aus Versehen auf die Löschtaste gekommen sein. Berge, Seen, Himmel — alles weg. Plötzlich ist da nur noch Weiß. Schwindel kündigt sich an, das Auge giert nach Farbe, Kontur, etwas, das Halt gibt im Nebelvakuum — und findet Frederik, den Fotografen. Er läuft dicht vor mir. Weiß er noch, wo es langgeht? Irgendwo rechts von uns stürzt der schneegekrönte Glittertind, Norwegens zweithöchster Berg, senkrecht ins Bodenlose. Ich bin beunruhigt. Aber gleichzeitig ist diese surreale Leere auch spannend. Mein Gehirn schüttet abwechselnd Stress- und Glückshormone aus. Ein Cocktail aus Adrenalin und Dopamin. Fast so, als wäre man frisch verliebt.
Wahrscheinlich erlag ich schon am ersten Abend, bevor wir überhaupt unsere fünftägige Rundwanderung starteten, Jotunheimens verwegenem Charme. Wir brachen an einem sonnigen Julitag in Oslo auf und schaukelten mit dem Bus über liebliche Hügel. Vier Stunden später passierten wir Beitostølen, das Tor zum Nationalpark Jotunheimen. Hinter den letzten Häusern säumten vereinzelt Felsen die Straße. Bald war die herbe Landschaft so übersät mit moosbesetzten Brocken, als hätte es vor Urzeiten Steine geregnet. Am Gjende angelangt, schauten wir auf den 20 Kilometer langen See und die mächtigen Berge. Auf den schroffen, kohlrabenschwarzen Gipfeln leuchteten die Schneefelder. Dann schauten wir in den Himmel. Zornige Wolkengeschwader zogen auf.
Spätestens am nächsten Tag, als wir über den 1743 Meter hohen Bergrücken des Veslefjellet zum sagenumwobenen Besseggen aufstiegen, war es gänzlich um mich geschehen. Staunend wie Kinder, mit offenen Mündern, standen wir am Kopf des schwindelerregenden Besseggengrates. Unter uns zwei steile Tröge, ausgehobelt von eiszeitlichen Gletschern. Der linke, tiefergelegene, gefüllt mit türkisenem Schmelzwasser. Der Gjendesee. Im rechten der dunkelblaue Bessvatnetsee. Zwischen beiden ein mit ameisenkleinen Wanderern gesprenkeltes Felsband, an dem sich einst das Eis vergeblich abgemüht hat. In Henrik Ibsens Schauspiel »Peer Gynt« galoppiert der Titelheld auf einem Rentier im halsbrecherischen Ritt über den Besseggen-Grat, wir kraxelten mit Händen und Füßen die mächtigen Felsvorsprünge hinab. Da setzte das Dopamin-Adrenalin-Chaos zum ersten Mal ein.
Das nächste Mal spürte ich es am Tag darauf, auf der schwankenden Hängebrücke über dem Blåtjønnåe. Unter mir tobte der Gletscherfluss, von oben prasselte heftiger Regen. Obwohl ich pitschnass war und fror, packte mich eine irre Freude über die entfesselten Naturkräfte.
Jotunheimen-Runde = Achterbahn der Gefühle
Heute, auf dem Glittertind, im ewigen Eis, 2464 Meter über null, ist dieses Gefühlschaos schon wieder da. Wir stapfen weiter durch die Ursuppe. Frederik vor mir zögert, hält Ausschau nach Fußspuren im Schnee, geht ein paar Schritte, bleibt wieder stehen. »Ich denke, hier ist es.« Ich schaue ihn fragend an. »Der Gipfel. Wir sind oben.« Er grinst. »Willst du ein Foto vom Panorama?« Ich will, setze mein kühnstes Bergsteigergesicht auf und stelle mir vor, ich könnte Jotunheimens majestätische Bergparade jetzt tatsächlich sehen. Wo wir jetzt stehen, rasselten vor 400 Millionen Jahren die beiden Urkontinente Baltica und Laurentia ineinander. Stein zermalmte harten Stein, Fels schmolz, mächtige Schollen schoben sich über einander. So gigantisch war die Wucht, dass sich ein 3500 Quadratkilometer großes Hochgebirge mit über hundertfünfzig 2000er-Gipfeln auffaltete: Jotunheimen, Reich der Riesen.
Wir folgen den Fußspuren weiter über das 15 Meter dicke Schneefeld und erreichen wenig später sicher das Geröllfeld auf der anderen Seite. Ein signalroter Punkt leuchtet uns aus den Nebelschwaden entgegen. Wir haben die Wegmarkierung gefunden. Während wir durch das steile und verblockte Terrain absteigen, fängt es an zu tröpfeln. Sehr vorsichtig klettern wir über die glitschigen Felsstufen. Im Steindalen durchwaten wir einen flachen Gebirgsbach. Inzwischen regnet es in Strömen. Ich fröstele und habe die Nase voll. Wer sich mit Jotunheimen einlässt, muss sich auf eine Achterbahn der Gefühle einstellen.
Wir wandern entlang des Baches, der ordentlich an Tiefe und Temperament zulegt. Bis die rote Wegmarkierung auf einmal endet. Verwirrt suchen wir die bronze-grün gescheckten Wiesen ab, scannen schroffe, flechtenbewachsene Felsen und entdecken schließlich ein Steinmännchen. Es steht auf der anderen Seite des Bachs! Über große Steinbrocken puzzeln wir uns einen Weg durch die Strömung. Ein Balanceakt, doch dank Trekkingstöcken gelangen wir trockenen Fußes hinüber. Ich triumphiere. Und stehe wenig später fassungslos am Ufer des Skauta: Das Flussbett ist gute 20 Meter breit und nach dem strengen Winter kniehoch gefüllt mit kristallklarem Wasser. Hier müssen wir auch noch durch.
Eine gefühlte Ewigkeit später erreichen wir die rostfarbenen Blockhütten von Spiterstulen. Im Vorraum der Haupthütte sinke ich erschöpft auf eine Bank. Wasser tropft von meiner Nase, rinnt von Jacke und Hose. Mir gegenüber sitzt ein klatschnasser Frederik, zu seinen Füßen hat sich eine Pfütze gebildet. Weil er so bemitleidenswert aussieht, pruste ich los. Und da ich vermutlich genauso erbärmlich aus der Wäsche schaue wie er, bricht auch er in lautstarkes Gelächter aus.
Drinnen brennt ein Kaminfeuer. »Ihr kommt zu spät«, sagt die nette Empfangsdame. »Die Sauna ist leider schon aus.« Stimmt, stelle ich überrascht fest: fast acht Uhr. Im skandinavischen Sommer wird es nie dunkel, da vertut man sich schon mal mit der Zeit. Statt zu saunieren, dusche ich ausgiebig. Sonst macht heißes Wasser nur sauber. Nach einem eisigen Regentag in Jotunheimen macht es außerdem auch sehr glücklich. Tag vier. Der Regen hat aufgehört. Im Hof stehen ein paar Jugendliche mit Eispickeln. Ob sie über den Styggebrean-Gletscher hinauf zum Galdhøpiggen, Norwegens höchstem Berg, aufsteigen? Vielleicht erkunden sie auch das verworrene Labyrinth aus Eishöhlen, Spalten und Türmchen am Svellnosbreen? Das ewige Eis hat die Gegend um Spiterstulen bis heute fest im Griff.
Auch das grüne Visdalen, durch das wir heute unsere Rundtour fortsetzen, ruhte einmal unter Eis. Die Gletscher gingen hier ebenso wenig zimperlich mit der Landschaft um wie am Gjendesee. Sie hinterließen das Visdalen als raumgreifendes U und luden am Talschluss haufenweise Geröll und Kies ab. Über der Kiesmoräne thront das Wahrzeichen des Tals, die kegelförmige Kyrkja. Wir bekommen heute weder Kies noch »Kirche« zu Gesicht. Der 2032 Meter hohe Berg ist in Wolken gehüllt, die Moräne unter Schnee begraben. Zu Hause in Deutschland herrschen hochsommerliche Temperaturen weit über 30 Grad, wir betreten im Herzen Jotunheimens, auf 1400 Metern, Winterwunderland. Nur aus drei Farben besteht der stille Landstrich zwischen Kyrkja und Leirvassbu: Weiß strahlt der Schnee. Schwarz glühen die Felsen. Blau leuchten die Bergseen. Selbst Mitte Juli ist das Wasser nur teils vom Eis befreit. Wie mag es hier erst im Januar aussehen? Vor der Leirvassbu-Hütte steht eine Schneefräse. Am fünften Tag schneit es. Durch einsame Seentäler steigen wir ab. Lange Zeit laufen wir über geschlossene Schneedecken, dann garnieren nur noch einzelne Baiserhauben das Fjell. Am Hellerfossen- Wasserfall, auf 1000 Meter Höhe, lassen wir die letzte steile Schneeflanke hinter uns und verabschieden uns aus dem Wintermärchen.
Der Wanderweg ins Storådalen führt über mattgrüne Grasmatten
Bald erreichen wir die Baumgrenze, in einem windschiefen Wald grast eine Kuhherde. Zwischen den Birken blitzen weiße Fjellnelken. Als wir in Gjendebu, am westlichsten Zipfel des Gjendesees, ankommen, geschieht Unglaubliches: Der Himmel reißt auf. Gjendebu beherbergt seit 1871 Jotunheimen-Wanderer. Im selben Jahr wurde auch Gjendine Slaalien, die musikalische Tochter der Wirtsleute, geboren. Einige Sommer später, Gjendine war schon eine junge Frau, besuchte Edvard Grieg Jotunheimen. Er hörte Gjendine singen, schrieb ihre Lieder auf und machte die schlichten Weisen in ganz Norwegen bekannt. Gjendines Geburtsort, ein einfaches Steinhäuschen, ist bis heute erhalten und kann besichtigt werden. Im sanften Abendlicht laufen wir am See entlang. Gelbe Butterblumen und lilafarbener Eisenhut wuchern im langstieligen Ufergras. In einer kleinen Bucht schlagen wir unser Zelt auf. Am nächsten Morgen steigt die Sonne in einen strahlend blauen Himmel auf. Ich muss an Gjendine denken. 1891 reiste der Komponist Julius Röntgen gemeinsam mit Grieg nach Jotunheimen. Röntgen machte Gjendine einen Heiratsantrag, doch sie wies ihn ab. Sie wollte ihre geliebten Berge nicht verlassen. Ich schaue hinaus auf den funkelnden See. Im Wasser spiegeln sich schneebedeckte Gipfel. Ich kann Gjendine verstehen.