Dies ist der dritte und letzte Tag unserer Tour durch die Wildnis des Jotunheimen-Nationalparks 250 Kilometer nordwestlich von Oslo. Sechsunddreißig Wanderkilometer stecken meinem Mann Jan und mir schon in den Beinen: von der Spiterstulen-Hütte über die steinige Hochebene Skautflye zur Glitterheim-Hütte, wo wir gezeltet haben, dann weiter zur Memurubu-Hütte. Und die ganze Zeit über haben wir unserem persönlichen Highlight entgegengefiebert, dem berühmten Besseggengrat, der als scharfe Schneide die beiden langgezogenen Seen Gjende und Bess voneinander trennt. Doch jetzt, kurz vor dem Grat, sehen wir: nichts.
Dichter Nebel verhüllt die Landschaft. Bedrückt kauern wir uns auf einen Fels und warten. Stille umgibt uns, Feuchtigkeit schlüpft in unsere Klamotten. Die Zeit kriecht. Dann endlich! Nach einer knappen Stunde öffnen sich im Nebelvorhang kleine Löcher, nach und nach zerfällt der graue Schleier in Schwaden, die ein frischer Wind zügig durch das Gjendetal treibt. Zuerst können wir den tiefblauen Besssee ausmachen, dann blitzen Teile des türkisfarbenen, 18 Kilometer langen Gjendesees herauf. Und schließlich öffnet sich das gesamte Panorama. Ich bin überwältigt!
Nur schweren Herzens eisen wir uns irgendwann von dem Ausblick los, schließlich liegen noch etwa zwei Drittel der 14 Kilometer langen Strecke vor uns. Gespannt und mit etwas Muffensausen im Gepäck steigen wir hinab zu dem Band, das die beiden Seen trennt. Es misst etwa 50 Meter in der Breite – nicht der erwartete Drahtseilakt. Fast bin ich etwas enttäuscht, bis ich mich erinnere, dass der Fels unter meinen Füßen die Wasser des Besssees (1373 m) davon abhalten muss, 400 Meter tief in den Gjendesee zu stürzen.
Auf dem sich anschließenden Grat ist dann wirklich Schwindelfreiheit gefragt. Immer wieder müssen wir die Hände zu Hilfe nehmen, die Stöcke haben wir an den Rucksack geschnallt. An sich bereiten mir Abgründe keine Probleme – solange ich sicher stehe. Doch hier stellen lose Steine meinen Gleichgewichtssinn ziemlich auf die Probe. Manchmal führt der Weg so dicht am Abgrund entlang, dass ein Fehltritt das Aus bedeuten würde. Bloß nicht daran denken, bloß nicht nach unten schauen! Ich konzentriere mich ganz auf den nächsten Schritt, den Blick starr auf Weg und Fels gerichtet. Nur selten pausiere ich kurz und wage einen Blick zurück auf das Band, den Gjendesee und das gigantische Gipfelpanorama von Skandinaviens höchsten Bergen – knapp an die 2500-Meter-Marke reichen sie heran.
Dann klettere ich weiter, vorbei an einer norwegischen Schülerin in T-Shirt und leichten Sneakers, die auf einem wackelig aussehenden Felsvorsprung Joghurt löffelt. Bin ich so ein Weichei oder das Mädel so tollkühn? Egal, schießt es mir durch den Kopf, ich will diesen Grat einfach nur hinter mich bringen. Erst ganz am Ende merke ich, wie die Anspannung abfällt. Noch einmal genieße ich den Blick zurück zum Band und auf die beiden Seen. Geschafft! Und von meiner sicheren Warte aus betrachtet finde ich, der Nebel hat unserem Abenteuer sogar noch mehr Dramatik verliehen.
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