"Winterliche Stimmung in den Dolomiten" steht unter dem Bergpanorama auf dem Kalender von 1997, der ein bisschen vergilbt und links oben von Spinnweben überzogen ist. Immer wenn ich in meinem Keller Holz für den Ofen hole, bleibt mein Blick im Vorbeigehen sehnsüchtig daran haften. Senkrechte Felsgiganten, an denen sich weder Steinböcke noch Schneeflocken festklammern können. Erst wo die Vertikalen nach unten hin den 90-Grad-Winkel verlassen, glitzert der Pulverschnee. Einmal unter diesen Wänden stehen, hinaufschauen und sich klein fühlen; um im nächsten Moment wie im Rausch den Steilhang hinunterzujagen, in langen Turns ins Tal. Und so bin ich schon ein bisschen enttäuscht auf dem Weg vom Parkplatz Pederü zur Sennes-Hochebene. Nicht, dass vereinzelt der Dreck durch die Schneedecke schaut. Eher andersrum.
"Oh Madonna", entfährt es Bergführer Manuel Agreiter, als wir mit geschulterten Tourenski durch den Matsch marschieren. Denn eigentlich ist der Naturpark Fanes-Sennes-Prags ein Paradies für Tourengeher. Zwischen den Tälern von Alta Badia und Enneberg schwingt er sich bis auf 3146 Meter auf, und schon vor über hundert Jahren waren hier Bergfexe mit langen Holzbrettern und Lodenhosen unterwegs. Aber heute spritzt bei jedem Schritt der Matsch bis zur Oberkante der Skischuhe. Noch eine Serpentine und noch eine. Bis wir nach einer weiteren Kehre die Schneefallgrenze erreichen. Ein paar Klamotten ausziehen, die Ski anziehen, Rucksack festschnallen. Erst als alles sitzt, schaue ich auf und blicke in eine Landschaft mit Puderzucker-Topping. Latschenkiefern ragen aus dem Tiefschnee. Tannen verteilen sich quer über die Hochfläche, die auf allen Seiten von Dolomitfelsen eingerahmt wird, als wären es Schutzmauern. Wir gleiten über den weißen Teppich ins Almdorf Fodara Vedla. Ein handbemaltes Holzschild weist den Weg in südöstliche Richtung zum Gipfel des knapp 2500 Meter hohen Lavinores. Der Berg liegt am Rande der Fanesgruppe und wird zwischen berühmten Nachbarn wie Zehnerspitze oder Lavarela oft vergessen.
Wo die Berge noch wild sind: Fanes-Sennes-Prags
Erstaunlich, wie ruhig es hier ist, gerade mal acht Kilometer Luftlinie entfernt vom größten Skizirkus der Welt, dem Dolomiti Superski mit 1200 Pistenkilometern quer durch die Dolomiten. Ist es nur heute so einsam, weil das Wetter eigentlich viel schlechter gemeldet war? »Der Lavinores ist schon ein bekannter Berg. Aber sicher keiner, wo Tausende hoch gehen«, sagt Manuel. »Auf Skitouren will ich am liebsten nur meine eigene Spur im Schnee sehen und die von den Hasen.« Wenn es nach ihm ginge, dürften die Berge so bleiben, wie sie sind, rau und wild. Da gehe es ihm wie vielen Ladinern, einer rätoromanischen Sprachgemeinschaft mit 40.000 Angehörigen in Südtirol, dem Trentino und in Belluno. Dass der Naturpark Fanes-Sennes-Prags den Charme der Wildnis versprüht, liegt schlicht daran, dass man weder mit dem Auto noch mit der Bergbahn bis direkt vor die Hütten gelangt. So liegt der Weg zum Gipfel des Lavinores unberührt vor uns. Nicht einmal Hasen waren seit dem Neuschnee unterwegs. Manuel spurt quer über die etwas steilere Nordwestflanke und dann den sicheren Ostkamm hinauf zum Gipfel. Gerade, als wir den höchsten Punkt erreichen, schiebt sich ein dichtes Wolkenfeld über die umliegenden Dolomitengipfel. Das Rautal und der spektakuläre Weitblick bis Cortina d’Ampezzo verschwinden im Whiteout. Doch wenn das Auge nichts sieht, schalten die anderen Sinne auf Feingefühl. Im Blindflug geht es zwischen dichten Schneewolken den Nordhang hinunter, wie durch schwerelosen Raum. Hier und da kommt ein Sonnenstrahl durch und bringt Farbe in die weiße Wüste.
Zurück im Almdorf Fodara Vedla müssen die Felle nochmals drauf für den flachen Anstieg zur Sennes-Hütte, dem Domizil für die Nacht. Die Hüttengaudi beginnt direkt beim Abendessen. Schnitzel mit Pommes (Version für ausgehungerte Bergsteiger), garniert mit musikalischen Schmankerln der "Skitourenbande Mittenwald" – außer uns die einzigen Übernachtungsgäste, die sich für heute Nacht auf dem Rifugio Sennes angekündigt haben. Sie ziehen sämtliche Instrumente der Hütte aus dem Eck, inklusive Teufelsgeige, dem Oberlärminstrument für die Fastnacht. "Firn vom Feinsten", erzählt der Boss der Bande und wiederholt seine Schilderungen vom genialen Tag auf dem Monte Sella di Sennes. Wenn man für morgen dasselbe Ziel hat, hört man sich die Schwärmerei auch gerne zwanzig Mal an und geht dann mit Skitouren-Träumen ins Bett. Natürlich nicht ohne die einstimmig gesungene Montanara, die italienische Hymne auf die Berge.
Die Nacht bringt Neuschnee und einen kalten Wind, der sich in sämtliche Ritzen schleicht, die die Funktionsklamotte zugunsten der Atmungsaktivität offenhält. Abwarten und Espresso trinken. Die innere Unruhe kommt aber weniger vom Kaffee als von der Hoffnung, dass es bald aufhört zu schneien; dass es aufklart; und dass wir die Ersten sein werden, die ihre Spuren in den Pulverschnee zeichnen. Zwei Stunden später ist es so weit. Der Wind bläst immer noch, und so packen wir uns ein, ehe wir uns zum Monte Sella di Senne aufmachen, der höchsten Erhebung im Sennes-Gebiet und einem wahrhaft grandiosen Skitourengipfel. Obwohl die typischen Vertikalen der Dolomiten den Berg umgeben, weist der Anstieg wenige alpine Schwierigkeiten auf. Die Lawinensituation sollte man vorher dennoch ausführlich studieren.
Von der Sennes-Hütte bis in 2800 Meter Höhe
Dünenartig verläuft die Route in nordwestliche Richtung leicht bergauf und bergab. Der Wind wirbelt den Neuschnee durch die Luft, verwischt unsere Spuren im Nu und bläst die Wolken davon. Jetzt zeichnet die Sonne das Meer an Gipfeln, das uns umgibt, klar in den Himmel; von geschmeidigen Hügeln bis zu markanten Dolomitfelsen wie Seekofel und Hohe Gaisl. Rau ist das Wetter und rau die Landschaft.
Es tut so gut, einfach in der Natur unterwegs zu sein, mit all ihren Unwägbarkeiten und Facetten, ohne Weichzeichner, Netz und doppelten Boden. Wenn auch zusammen mit einem Ladiner, der den Schnee liest wie seine Frau – sagt er jedenfalls. Über die weitläufige Hochebene, in der man bei schlechter Sicht wohl schnell die Orientierung verliert, gelangen wir an die steilen Felsflanken des Monte Sella di Sennes. Wir umgehen sie linksseitig und bewältigen dann in Spitzkehren den steilen Hang hinauf zum Grat. Eine letzte Anstrengung, mit genügend Abstand zu den vom Wind geschaffenen Wechten, und wir stehen auf dem breiten, 2787 Meter hohen Gipfel. Runter geht es über den Südhang, der im Frühjahr herrlich auffirnt. Bei unsicheren Verhältnissen kann diese Abfahrt aber genauso lawinengefährlich werden wie der Osthang. Wer etwas mehr Zeit mitbringt, macht von der Sennes-Hütte aus den kleinen und großen Seekofel oder quert hinüber in die Berge der Fanes mit weiteren Übernachtungsmöglichkeiten. Wir hingegen fahren auf dem Aufstiegsweg ins Tal ab und mit dem Auto über St. Vigil nach Alta Badia, auch als Gadertal bekannt.
Am nächsten Tag: Der Skitour-Klassiker auf den Piz Boè
Im Hotel Cristallo erscheint Saunameister Roland mit blau-weiß-grüner Wollmütze. Es sind die Farben Ladiniens: blau wie der Himmel, weiß wie die schneebedeckten Berge, grün wie die Wiesen. Nach dem Aufguss gleitet man durch den Außenpool, schaut wie hypnotisiert hinauf zum rotglühenden Heiligkreuzkofel und will hier nicht mehr weg. Ob beim Abendessen oder beim Schlendern durch Alta Badia – überall spürt man die ladinischen Traditionen. Ich denke an Franz Kostner, den Skipionier, der den Fremdenverkehr nach Alta Badia brachte. 1908 zog er die ersten Urlauber mit dem Pferdeschlitten von Bruneck herüber. Im selben Jahr führte er einen Skitouren-Gast auf den Piz Boè und fuhr mit ihm durchs Mittagstal ab. Eine klassische Route, die mit ihrer steilen, technischen Abfahrt zu den Lieblingstouren der einheimischen Bergführer zählt und die Manuel für den nächsten Tag plant.
Im Gegensatz zu Franz Kostner nehmen wir in der Früh in Corvara die Boè-Seilbahn und den Vallon-Sessellift und kürzen damit die ersten tausend Höhenmeter ab. Oben am Vallonkessel wird das Bild vom Wandkalender im Keller mit einem Schlag lebendig. Kerzengerade Felswände, 300, vielleicht 400 Meter hoch? Links davon liegt wie auf dem Präsentierteller die Franz-Kostner-Hütte vor dem Panorama der Marmolata. Manuel bewirtschaftet die Hütte seit ihrem Wiederaufbau: jeden Sommer, seit 35 Jahren. "Es ist eine Leidenschaft, hier oben zu sein", sagt er und man merkt ihm an, dass dies sein Ort, seine Heimat ist. Im Grunde fühlt sich dieser Moment beim Bergaufgehen schon an wie das große Finale. Dabei ist er erst der Anfang. Wir gehen an der Kostner-Hütte vorbei und gelangen durch die steile Pigolerz-Rinne auf eine Hochfläche. Dann erneut steil hinauf auf die breite Südostschulter des Piz Boè, des mit 3152 Meter höchsten Gipfels im Sellamassiv, mit einem Rundblick zum Verrücktwerden. Dann die letzte Abfahrt. Zunächst Richtung Boè-Hütte und weiter zur engen Einfahrt ins Mittagstal, die so steil ausfällt, dass einem kurz schwindelig wird. Ein Ruck und wir setzen die ersten Schwünge zwischen den dramatisch aufragenden Felswänden. Immer wieder legen wir eine Pause ein. "Das muss man genießen", sagt Manuel fasziniert, als wäre er zum ersten Mal hier. "Das ist Leben." Ich werde daran denken, wenn ich wieder in den Keller gehe und den Kalender sehe.
Mehr über die Dolomiten
Die Dolomiten sind eine Gebirgsgruppe in den Ostalpen, genauer gesagt in den italienischen Regionen Trentino, Südtirol, Venetien und Belluno. Am 26. Juni 2009 wurden die Dolomiten vom Welterbekomitee der UNESCO aufgrund ihrer weltweit einzigartigen Gebirgslandschaften in die Liste des Welterbes auf. Die Dolomiten kann man im Sommer als auch im Winter besuchen. Zur wärmeren Jahreszeit eignet sich die Gegend besonders für Bergwanderer, Kletterer und Radfahrer. Im Winter kann es sehr kalt werden, wodurch sich die Dolomiten besonders für Skitouren oder zum Skifahren anbieten.