Wer sich dem Bergsport verschreibt, träumt oft von Expeditionen auf berühmte Gipfel – oder trachtet nach Triumphen und Rekorden. Ski-Guide Benoît Python hat keinen dieser Ansprüche, seine Hausberge sind ihm genug. "No, no, von hier muss ich nicht fort", sagt der 58-jährige Schweizer. Mit "hier" meint Benoît Crans-Montana. Gelegen im französischsprachigen Teil des Schweizer Kantons Wallis, auf einem sonnigen Hochplateau über dem Rhonetal mit Fichtenwäldern, Weinbergen und Seen.
Benoîts Mutter hatte die rasante Entwicklung des Ortes hautnah miterlebt, damals, als der Bergtourismus in den Alpen aufblühte. Mediterranes Klima auf 1500 Metern über dem Meer, 300 Sonnentage und die reinste Luftqualität der ganzen Schweiz machten Montana bereits Ende des 19. Jahrhunderts als Kurort bekannt. In den Sanatorien tauchten die Gäste in die Bergwelt ein, fast so wie sie Thomas Mann in seinem Roman "Der Zauberberg" beschreibt. In der später entstandenen benachbarten Feriensiedlung Crans-sur-Sierre gab sich in den Siebzigerjahren die Hautevolee die Klinke in die Hand, darunter James-Bond-Darsteller Roger Moore oder Jackie Kennedy.
Heute sind die Gemeinden unter dem Doppelnamen "Crans-Montana" vor allem in der Skiszene bekannt. "1987 fanden hier die Skiweltmeisterschaften statt", erzählt Benoît. "Das wollte ich hautnah miterleben und -organisieren, also wurde ich Skilehrer." Für ihn bis heute die ideale Möglichkeit, Passion und Profession zusammenzubringen: in den Bergen sein, die Rauheit der Natur und den Schnee unter den Füßen spüren, Leute treffen. "Die Leute sind so schön." Schön im Sinne von glücklich und zufrieden. "Sie sind in Ferien. Wenn du ein bisschen gibst, bekommst du viel zurück", sagt Benoît, der mit seinem gekräuselten Haar und dem spitzbübischen Lächeln ein bisschen aussieht wie ein französischer Komiker.
Start im Hotel La Prairie – Crans-Montana
8.15 Uhr. Die Espressomaschine rattert an der Bar, an der einst auch Roger Moore saß, statt mit Wodka Martini allerdings häufig mit einem Fendant, dem fruchtigen Weißwein des Wallis. In der Lobby des Hotels trifft der Charme der Siebzigerjahre auf alpine Rustikalität. Roter Teppichboden geht über in neu verlegtes Parkett; Holzbalken fassen bernsteingelbe Butzenscheiben ein; Stoffsessel mit Satinkissen reihen sich um ein weißlackiertes Klavier. Über dem offenen Kamin ein Bild der Aussicht von Crans-Montana auf die Gipfelparade gegenüber, die vom Bietschhorn im Osten über Dom, Weisshorn, Matterhorn und Grand Combin bis zum Mont Blanc im Westen reicht.
Benoît klappt sein Brotzeitmesser auf und fährt auf der ausgebreiteten Karte mit der Messerspitze entlang der Route – was die Dramatik der aktuellen Lawinensituation betont, von der er nebenher berichtet. "Erst einmal mit der Gondel hoch zum Plaine-Morte-Gletscher, wo wir uns einen Überblick verschaffen", sagt er. "Da oben werdet ihr Augen machen." Er senkt den Kopf und schaut über seine Lesebrille hinweg in die Runde, lächelt verschmitzt. Plaine Morte – quasi das Death Valley der Schweiz. Wie die amerikanische Wüste der Extreme (heißer und trockener als alle anderen) wartet auch der Gletscher mit Superlativen auf: gelegen auf 2800 Metern Höhe und mit siebeneinhalb Quadratkilometern Fläche der größte Plateaugletscher in den Alpen.
Eine Stunde später erwacht das Panorama vom Kaminzimmer des Hotels zum Leben – auf der Pointe de la Plaine Morte (2927 Meter) mit einer Aussicht auf die Walliser Alpen und 18 Viertausender auf der einen, den faszinierend schönen Plateaugletscher auf der anderen Seite.
3 Tage auf Tour im Wildstrubelgebiet
Die Ziele unserer dreitägigen Skitour liegen in alle Himmelsrichtungen verteilt: Im Westen der Rohrbachstein auf 2950 Metern, hinter der Hochebene stolz aufragend der Wildstrubel (3244 Meter) und ganz im Osten der Fast-Dreitausender Trubelstock (2998 Meter). Hier am Pointe de la Plaine Morte betritt man das Skitouren-Dorado der Region, während sich hinunter nach Crans-Montana 140 Pisten-Kilometer auf den Südhängen verteilen. Mit dem Verlassen der Gondel bleibt tatsächlich auch die Zivilisation weitestgehend zurück. Begegnungen mit Menschen werden rar. Nur die Weite des Gletschers, umringt von einsamen Bergspitzen – ein Death Valley in Weiß.
Piepser-Check und ein letztes Selfie. Der Puls schnellt in die Höhe auf 2927 Metern über null, die erste Spritztour hat 30 Grad Gefälle – sie beginnt nur wenige Meter oberhalb der Bergstation. Es ist dieser kleine Augenblick der Überwindung, dann schwebt man wie auf Wolken über feinsten Pulverschnee, der so sanft ist, dass er an den Füßen kitzelt. Jede Hochentlastung wird zur Schwebephase zwischen Himmel und Erde. Viel zu schnell endet der Flug. »Magnifique«, ruft Benoît nach der ersten Testfahrt. Abschnallen und anfellen im Trancezustand, voller Träume, was nach diesem fulminanten Start kommen mag. Der einstündige Anstieg über die Pointe de Vatsaret zum Gipfel des Rohrbachsteins ist wenig schwierig, aufgrund der Höhe aber durchaus anstrengend.
"Sehr guter Schnee", freut sich Benoît und mustert die weiße Decke. Nach dem Hin und Her des Wetters, das sich nur unter Mühen zwischen warm und kalt entscheiden konnte, entschloss der Winter sich vergangene Woche für einen gleichmäßigen Schneefall, der Skifahrerherzen hüpfen lässt. Hinunter geht es Richtung Rawilpass und im letzten Anstieg zur Wildstrubelhütte, dem Anlaufpunkt für die erste Nacht. Im Westen liegt weit unten das Tal, darüber färbt sich der Himmel rot. Sundowner auf 2793 Metern.
Am nächsten Tag wartet an der Grenze der Kantone Bern und Wallis der Wildstrubel. Er besteht aus drei nahezu gleich hohen Gipfeln, wobei der mit 3244 Meter höchste von ihnen der eigentliche Wildstrubel ist, auch Lenkerstrubel genannt. »Das ist mein Lieblingsberg«, sagt Benoît. Auf dem Weg von der Hütte zur Wisshorelücke knirscht der kalte Schnee unter den Fellen. Die Kälte ist wichtig, denn der Tag wird warm, und mit den Temperaturen steigt die Lawinengefahr, die besonders am Wildstrubel sehr hoch sein kann. Deshalb wirkt der sonst so entspannte Bergführer heute geradezu pedantisch. »Wir brauchen vier Stunden und müssen vor elf Uhr auf dem Gipfel sein, damit es nicht zu spät wird für die Abfahrt.« Ausgerüstet mit Klettergurt, Seil, Pickel und Harscheisen beginnt in der Dämmerung der Marsch über den Plaine-Morte-Gletscher. Erste rosa Streifen am Himmel. Mehr und mehr nimmt die schier endlose Ebene des Hochplateaus Kontur an, und der Mensch ist nurmehr ein kleiner Punkt.
Ruhe, Landschaft, Stille.
Mit dem Schwierigkeitsgrad WS macht es der Wildstrubel seinen Besuchern bei guten Bedingungen recht einfach, selbst auf den letzten Metern über die Westschulter fordert er mehr Höhenfitness als technisches Know-how. Und dennoch belohnt er mit einer beeindruckenden Rundumsicht auf die Berner Alpen und die 4000er des Wallis.
"Wenn du hier oben stehst und der Gletscher liegt vor dir, das ist so schön", sagt Benoît und breitet die Arme aus, als könnte er das Eismeer umfassen. »Du verstehst nicht, wie es so flach sein kann?« Die 1400 Meter lange Abfahrt beginnt leicht über breite, ebenmäßige Hänge. Von Gletscherspalten ist weit und breit nichts zu sehen. Erst am Grat der Faverges wird es steil und eng. Bei teilweise knapp 40 Grad Gefälle rutscht einem das Herz kurzzeitig in die Hose, um dann mit Adrenalin im Gepäck einen umso höheren Luftsprung zu machen. Von Felsen flankierte Rinnen führen hinunter in den Weiler Colombire, wo unser zweites Nachtdomizil wartet. Die letzten Kilometer zur Hütte strengen an, denn entlang eines Winterwanderwegs geht es mehr geradeaus als abwärts.
Im Maiensäss bekommen strapazierte Füße dann eine Auszeit und hungrige Mägen einen Korb gefüllt mit Walliser Trockenfleisch, Roggenbrot und Alpkäse, dazu Wein aus der Gegend und Pflaumen-Tarte. Wer Zeit hat, besucht das hiesige Alpmuseum, welches das Bergleben von 1930 in die Gegenwart holt.
Ski Rando Parc mit zwei neuen Routen
Nur einen Steinwurf von Colombire entfernt verläuft unbemerkt eine von 16 Tourenski-Strecken des "Rando Parc", des weltweit größten Skitourenparks. Alle Routen zusammen bringen es auf einen Höhenunterschied von achttausend Metern. Angehende Skitourengeher sollen auf den gekennzeichneten Wegen sicher an den Sport herangeführt werden. Elegant: Für die Abfahrt nutzen sie dann die Freeride-Pisten des Skigebiets.
Der Schwierigkeitsgrad einiger Strecken wurde für die Saison 2023/24 überarbeitet – nun gibt es neue Einsteigerstrecken (grün). Außerdem auch zwei neue markierte Routen, die man ab dieser Saison entdecken kann:
- 15) La Cheesie (blau): Von Aminona aus, 2,1 km und 260 d+, eine Strecke, die auf der Strasse beginnt, dann immer steiler wird und schliesslich auf der Alpe "La Cave du Sex" endet, am Rande der der berühmten Sommerwanderung der Tsittoret-Suone.
- 16) La Printanière (rot): Von Merbé bis Cry d'Er bietet diese 2,5 km lange Strecke mit 350 Höhenmetern einen herrlichen Blick auf den Tseuzier-See. Diese Strecke eignet sich aufgrund ihres hoch gelegenen Ausgangspunktes besonders gut für die Zeit am Ende der Wintersaison.
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Östlich von Colombire beginnt hingegen das Heimspiel der eingefleischten Skitourengeher der Gegend: die Route auf den Trubelstock (2998m) – das Programm für den nächsten Tag. "On y va", ruft Benoît viel zu früh und viel zu fröhlich. "Auf geht’s!" Die Temperaturen steigen heute erneut, bis zu 6 Grad am Mittag. Also steht man um 7 Uhr auf den Skiern und macht sich an die knapp 1200 Höhenmeter hinauf zum Trubelstock. "Eigentlich haben wir hier auf der Südseite nicht so viele Lawinen", sagt Benoît. "Aber es gab zweimal starken Wind, das ändert alles."
Es ist die schwerste der drei Touren, Schwierigkeitsgrad ZS (ziemlich schwer). Enge Spitzkehren auf Steilhängen muss man ebenso beherrschen wie Kurzschwünge auf leicht ausgesetzten Passagen. Schon von weitem lockt der Trubelstock mit seinem markanten Felskopf. Eine schmale Spur führt vorbei an senkrechten Felsen hinauf zum Gipfel. Auch wenn der Pfad ausgetreten ist, fühlt man sich wie beim Balanceakt auf dem Drahtseil, mit Blick Richtung Abenteuer. Je nach Schneeverhältnissen geht hier ohne Harsch- und Steigeisen nichts mehr.
Hausberg hin oder her – viel Trubel herrscht auf dem Trubelstock nicht. "Du bist hier meistens ganz allein, wie in der Wildnis. Das macht mir Spaß", sagt Benoît. Donnergrollen in der Ferne unter blauem Himmel – Lawinengrollen. "Die war groß. Aber hier haben wir noch kein Risiko." Die Betonung liegt auf "noch" – Zeit für die letzte Abfahrt. Unterhalb des Col de la Roue staubt der Pulverschnee um die Beine. Lange, so lange geht es immer weiter hinunter in das Dorf Aminona, das einen schließlich von den Zauberbergen zurückholt in die Wirklichkeit.