Sport-Mentalcoach Petra Müssig über die Freude, die Höhenangst hinter sich zu lassen:
Petra Müssig: Ich war fast zehn Jahre als Snowboard-Profi aktiv und trainierte später das deutsche Snowboard-Freestyle-Nationalteam. Schon früh stand auch Mentaltraining auf meiner Agenda. Von "tschakka, du schaffst das" habe ich noch nie was gehalten. Mir ging es schon immer mehr darum zu erfahren, was Kopf und Körper brauchen, um besser zu werden, und vorhandenes Können auf den Punkt abzurufen. Dadurch beschäftige ich mich auch mit neurobiologischen Zusammenhängen. Mich interessiert besonders, wie sich Stress und Angst regulieren lassen und wie sich das alltagstauglich weitervermitteln lässt.
Bei fast allen Menschen mit Höhenangst kommt noch der Höhenschwindel dazu. Der entsteht, wenn sich im peripheren Sichtfeld einer Person keine fest stehenden Objekte mehr befinden, an denen sich der Körper für seine Stabilität orientieren kann. Beim Bemühen, die anfängliche Instabilität auszugleichen, schwankt der Körper leicht. Dieses Schwanken kann vom Gehirn als Bedrohung interpretiert werden und verschlimmert die Wahrnehmung der potenziellen Gefahr, die etwa von einem Abgrund ausgeht. Problematisch wird es auch, wenn wir uns aufgrund mangelnder Erfahrung oder Kondition auf einer Tour überfordern.
Evolutionär gesehen, sichert die Höhenangst das Überleben. Wer sich zu nah am Abgrund bewegt und stolpert, setzt sein Leben aufs Spiel. Wenn die Angst aber so weit geht, dass man nicht mehr über eine sechsspurige Brücke gehen kann, ohne einen Schweißausbruch zu bekommen, nimmt die Höhenangst krankhafte Züge an. Bei bis zu 95 Prozent der Betroffenen gibt es eine Ursache, die sich festmachen lässt. Die anderen etwa fünf Prozent haben nach meiner Erfahrung eine Angststörung, die pathologische Ursachen hat. Da können zum Beispiel posttraumatische Belastungsstörungen eine Rolle spielen. In solchen Fällen kann ich definitiv nicht weiterhelfen.
Grundsätzlich lässt sich lernen, mit der Höhenangst umzugehen. Wir können die Verarbeitung von als bedrohlich empfundenen Reizen durch viele kleine Erfolgserlebnisse verändern. Wichtig ist, dass wir die Angst nicht verdrängen, sondern lernen, mit ihr umzugehen. Mit meinen Kursteilnehmern taste ich mich langsam an die stressige Situation heran, zum Beispiel eine Aussichtsplattform oder einen schmalen Pfad am Berghang. Menschen mit Höhenangst tendieren dazu, nach unten zu blicken, um die Gefahr im Auge zu behalten. Das hilft aber nicht weiter, es verstärkt die Angst nur noch. Sich an den Schritten des Vorausgehenden zu orientieren, kann aber beruhigend wirken. Weitere Tipps hier:
Meistens entwickelt sich Höhenangst aus einer Situation der Überforderung. Eine Person gelangt in einen neuen, bergaffinen Freundeskreis, etwa über einen neuen Partner. Nun geht der oder die Betroffene mit den anderen in die Berge, gerät physisch und psychisch an Grenzen, weil die Gruppe zum Beispiel in rutschigem Gelände unterwegs war. Daraus resultiert eine Gangunsicherheit. Das Gehirn speichert diese Erfahrung als gefährlich ab. Bei erneuten Bergtouren sendet es Warnsignale: Stopp, hier wird es wieder gefährlich. Spannend ist übrigens, dass etwa 90 Prozent der Menschen, die ich bisher beim Thema Höhenangst begleitet habe, relativ problemlos Gondelbahn fahren können und teils sogar paragliden. Kritisch wird es für die meisten erst dann, wenn sie wirklich abstürzen könnten.
Viele Menschen gehen mit zu großen Zielen in die Berge, womit eine Angst vorm Scheitern einhergehen kann. Oder man geht mit in die Berge, weil man zu einer bestimmten Gruppe dazugehören oder seinem Partner gefallen will. In solchen Momenten spielt auch Scham eine Rolle. Oft ist dann die Angst schon lange vor der Tour da – es ist quasi die Angst vor der Angst. Wenn zum Beispiel dein Ehepartner die Tour plant, sich tage- oder sogar wochenlang darauf vorbereitet, baust du derweil schon die ersten Ängste auf. Die lassen sich oft zur Seite schieben, manchmal sogar bis zur Schlüsselstelle der Tour. Dann aber platzt die Bombe, die Angst fährt dir in die Knochen und lähmt dich.
Wenn Partner unterschiedliche Vorstellungen davon haben, wie sie ihre Freizeit gestalten, kann das schon mal zu Konflikten führen. Wenn sie zum Beispiel gerne mit dem Mountainbike in die Berge fährt, aber er Angst davor hat, downhill zu fahren: Was dann? In meinen Kursen erlebe ich oft Partner, die ihrer Partnerin einen Gutschein schenken, oder andersherum, damit der Liebste seine Höhenangst überwindet. Nach solchen Kursen wird die Beziehung dann noch mal auf den Prüfstand gestellt: Entspricht mir das eigentlich? Das ist wie ein sanftes Anstupsen, da wird ein Prozess angestoßen: Was tut mir eigentlich gut? Entweder arrangiert man sich in der Partnerschaft. Jeder tut das, was er will, ohne dabei den anderen zu bedrängen – oder man geht getrennte Wege.
Man sollte wirklich Verständnis für die Angst des anderen zeigen, was ganz schwer ist für die, die keine Höhenangst haben. Sinnvoll ist es, schon vorher mit der Person abzusprechen, was hilft. Der eine findet es gut,wenn man ihm gut zuredet, die andere nervt das. Als Außenstehende sollte ich Ruhe in die Stresssituation reinbringen und im schlimmsten Fall die Tour auch abbrechen – aber ohne sauer zu sein. Keinesfalls sollte ich jemanden, der Angst hat, dazu überreden, weiterzugehen. Das macht es dann insgesamt nur noch schlimmer.
Wenn jemand eine Angstblockade hat, dann hilft es im ersten Moment, wenn sich die Person hinsetzt, weil die Angst den Schwindel verstärken kann. Nicht dass am Ende noch jemand aus lauter Angst irgendwo hinabstürzt. Die Person sollte kräftig durchatmen und sich wirklich beruhigen. Erst dann kann man entweder umdrehen und aus der Situation herausgehen. Oder wenn das Ende der Tour absehbar ist, tief durchatmen und Schritt für Schritt weitergehen. Grundsätzlich sollten sich Menschen mit Höhenangst nicht in Situationen begeben, die ihnen Angst und Stress bereiten. Je öfter man die Erfahrung macht, dass die Berge ganz grauselig sind, desto schwieriger ist es dann zu lernen, mit der Höhenangst anders und besser umzugehen.
Es geht vor allem darum, einen anderen Umgang mit den stressauslösenden Momenten zu erlangen. Somit ist Höhenangsttraining auch Stressreduktionstraining. Im Kurs üben wir zum Beispiel, hinderliche Gedanken wahrzunehmen und durch konstruktive Anweisungen zu dem, was genau jetzt zu tun ist, zu ersetzen. So können wir Ängste regulieren und das Erlebnis Berge ganz neu entdecken. Anstatt den Blick in die Tiefe zu suchen, orientieren wir uns auf einen festen Punkt in der Nähe. Gezieltes Atmen hilft ebenso, Stress zu reduzieren, weil es den Organismus zur Ruhe bringt und hilft, sich auf etwas anderes als die Angst zu fokussieren.
Eindeutig Kraftaufbautraining! Die Beinkraft ist bei vielen Wanderern unterentwickelt. Bergauf merkt man das nicht so, bergab ist die Schrittsicherheit aber tatsächlich reduziert. Durch gezieltes Training erhöht sich die Schrittsicherheit und Technik. Dazu bietet sich auch ein Koordinationstraining an, für das man ein Balanceboard oder eine Slackline verwenden kann. Um die Feinmotorik, also die Zusammenarbeit der Augen, Füße und Hände, zu verbessern, lohnt sich auch ein Einsteigerkurs im Sportklettern.
Menschen mit Höhenangst sollten eher nicht mit Stöcken ins Gelände gehen, weil Stöcke ein falsches Gefühl der Sicherheit vermitteln können. Natürlich nur, wenn ihre Knie das zulassen. Stöcke helfen bekanntlich, Knie- und Fußgelenke zu entlasten. Der Wanderer denkt dann, ach, ich habe ja etwas in den Händen und halte mich daran fest. Man könnte genauso gut Tannenzapfen in die Hand nehmen, das nützt ähnlich viel, nämlich nichts. Ohne Stöcke trainiert man beim Gehen viel mehr die Feinmotorik, das Gleichgewicht und die Balance. Wer immer mit Stöcken geht, der verlässt sich auf die Stöcke. Das feine Austarieren vom Abfedern der Schritte und die Schrittlänge wird durch die Stöcke dann vernachlässigt.
Gute Tourenplanung ist immer von Vorteil, aber Menschen mit Höhenangst informieren sich erfahrungsgemäß besonders gut und lesen aus den minimalsten Schwierigkeiten gleich Gefahren heraus. Kurze seilversicherte Stellen oder Eisentritte rufen dann Albträume hervor. Daher fangt mit leichten Touren an, bis es langweilig ist, dann probiert mittlere Touren mit der Option, auch zwischendrin umdrehen zu können. Gewöhnt euch schrittweise an schwierigere Passagen. Essenziell ist auch genügend essen und trinken. Oft ist aber der Einfachzuckeranteil der Energieriegel sehr hoch, was den Stress verstärken kann. Zu einer nachhaltigen Stressreduktion gehört daher auch eine ausgewogene Ernährung das ganze Jahr über.
Das ist nicht nur bei Müttern so, sondern beobachte ich auch bei Vätern: Wenn die Kinder da sind, ist man vorsichtiger, da wird ein kognitiver Prozess angestoßen. Viele meiner Kursteilnehmer hatten vor den Kindern keine Angst, mit ihnen ja. Sie sehen das Kind permanent in Gefahr. Irgendwann unterscheidet der Kopf dann nicht mehr, ob man Angst um sich selbst oder um das Kind hat. Alles wird gleich bedrohlich. Das ist dann eine angewöhnte Angst, eine automatische Verknüpfung. Das hängt aber auch damit zusammen, dass viele mit zunehmendem Alter risikobewusster werden. Wie anfangs erwähnt: Angst hat auch eine Schutzfunktion. Wer gut mit der Höhe im Alltag umgehen kann, hat schon viel gewonnen. Es muss nicht immer die Gratwanderung sein.
Niemand ist der Höhenangst ausgeliefert, der Umgang mit ihr erfordert aber Einsatz und Beharrlichkeit. Mit diesen Tipps kann es gelingen:
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VR-App, Kurse, gesunde Ernährung, gute Schuhe: Wer sich mehr in den Bergen trauen will, für den haben wir hier einige wichtige Helfer zusammengestellt.
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