Sie beruhigt sich nicht. Sie ist wütend und wild, und verfolgt ihren Weg ohne Rücksicht auf Verluste: die Wutach. Den Namen verdankt sie ihrem ungestümen Temperament. Im oberen Verlauf heißt sie noch Gutach – "gütige Ach". Der Nebenfluss des Rheins entspringt am Feldberg und fließt zunächst ruhig und ausgeglichen durch den Südlichen Schwarzwald nach Osten. Dann, einige Kilometer hinter dem Titisee, vereinigt er sich mit der zierlichen Haslach und entwickelt fortan eine beträchtliche Eigendynamik. Der Boden hat dem kräftigen Schwung nichts entgegenzusetzen. Der Fluss wird zur "wütenden Ach", zur Wutach. Gurgelnd reißt er hinter Lenzkirch die Erde auf. Wanderer, die nur einige hundert Meter entfernt auf der Hochebene des Schwarzwaldes stehen und auf die idyllischen Wiesen und Felder blicken, ahnen nichts von dem wilden Fluss in der schroffen Schlucht, die sich in einer bewaldeten Senke verbirgt. Und doch muss man sie zu den ganz großen Attraktionen des Schwarzwaldes zählen, ideal für ein abenteuerreiches Wanderwochenende von zwei bis drei Tagen.
Die Geologie der Wutachschlucht hat viele Gesichter
Ob sie auch ideal für alljährliche Vater-Tochter-Treffen ist? Ich habe die Schlucht meinem eigens aus dem Rheinischen angereisten Vater jedenfalls kräftig angepriesen, im Vertrauen auf die Fakten: Der 28 Kilometer lange und stellenweise über hundert Meter tiefe Graben steht seit 1939 unter Naturschutz. Er ist einzigartig: Die nur wenige Meter breite Wutach hat in kurzer Zeit – und 20.000 Jahre sind für Flüsse eine kurze Zeit – eine riesige Gesteinsmenge weggespült. Ungefähr die Masse des Matterhorns trug sie fort, und sie ist immer noch munter dabei, die jüngste Schlucht Europas tiefer einzuschneiden. Allein im Zeitraum von 1977 bis 1992 wanderte ein Messpunkt in einem Muschelkalkhang um 85 Zentimeter flussabwärts.
Im westlichen Teil, ungefähr bis zum so genannten Räuberschlössle, dominieren Granit, Gneis und Vulkangestein. Zwei Kilometer weiter flussabwärts, ab dem Wirtshaus an der Schattenmühle, findet man Buntsandstein. Noch vier Kilometer Richtung Schluchtende, auf Höhe des ehemaligen Schwimmbades Boll, beginnt das Kalkgestein, auf dessen Klippen der Wanderweg im letzten Abschnitt entlangführt.
Weitere Wanderungen durch die Wutachschlucht:
Zur Erkundung der abwechslungsreichen Schlucht bieten sich drei Wanderungen an. Die erste Wanderung führt vom Ort Kappel in zehn Kilometern durch die erste Hälfte der Schlucht bis zur Schattenmühle, die zweite von dort bis zur Wutachmühle (14 Kilometer).
Die dritte Wanderung ist kürzer, aber nicht weniger lohnend: Sie erschließt von der Wutachmühle aus ein Nebental der Wutachschlucht: die Gauchachschlucht, insgesamt acht Kilometer lang.
Vater und ich wollen von oben nach unten gehen und haben uns für die erste Wanderung entschieden. Schon früh, für meine Begriffe viel zu früh, brechen wir in Kappel auf. Wenigstens scheint schon die Sonne. Ich kremple meine Jacke hoch und atme tief den nadeligen Duft ein, der uns umfängt. Die ersten hundert Meter bleibt der Weg auf geteertem Untergrund. Vater bemängelt es sofort. Leicht entrüstet bemerkt er: "Also, geteerte Straße zum Wandern, das ist ja nun eher unerwünscht." Es soll seine letzte Kritik an diesem Wochenende bleiben. Wenige Augenblicke später verschwinden die letzten Häuser von Kappel hinter einer Kuppe, und wir blicken auf Wälder und das sanft abfallende Tal. Noch leitet der vom Schwarzwaldverein unterhaltene Pfad oberhalb der Schlucht entlang. Doch kurz darauf weist die rotweiße Raute auf gelbem Grund uns in Serpentinen tief in den Abgrund, wo uns urzeitlich wirkender Urwald verschluckt.
Der Abstieg hat an seinen steilsten Stellen einige Konzentration gefordert, jetzt aber folgt der Weg dem Lauf der Haslach, und wir schlängeln uns mit ihr durch das üppige Grün. Der Zusammenfluss von Gutach und Haslach erschafft eine malerische Kulisse: Von der Holzbrücke über der Haslach steigt Nebel auf, die Sonnenstrahlen brennen das Bild in unser Gedächtnis. Bald steigt der Pfad wieder an, um Stromschnellen zu umrunden – jeder An- und Abstieg eröffnet neue Ausblicke auf den gurgelnden Fluss, der jetzt Wutach heißt. Links und rechts ragt der Fels in die Höhe, uralte Tan¬nen säumen unseren Pfad, über uns kreist der Rote Milan. Wir scheuchen einen Fischreiher auf. Viele seltene Tiere leben in der Wutachschlucht, darunter Eisvögel und Wespenbussarde, aber auch 500 Schmetterlingsarten.
Achtung Rutschgefahr
Das Auf und Ab am steilen Hang fordert Trittsicherheit und Schwindelfreiheit, mitunter auch etwas Geschick. Man könnte hier den ultimativen Test für rutschfeste Sohlen durchführen, denn allerorts auftauchende und versickernde Wasserläufe halten den Pfad in Bewegung. Das Wasser macht, was es will, und unterspült Weg und Steg. So wird die Strecke nie langweilig. Vater schreitet recht zügig voran, sodass ich ordentlich ausholen muss, um Schritt zu halten. Mehrmals saust mir der alte Herr davon, kaum dass mein Blick vom Weg zu den Wänden hinaufschweift. Die Schlucht ist hier noch eng und bildet mit ihren Felsen, Farnen und Moosen eine Welt für sich. Weiterlaufen und staunen gleichzeitig ist nicht zu empfehlen, will man nicht unvorbereitet über herumliegende Brocken stolpern.
Auf dem Räuberschlössle
Stahlseile sichern kniffelige Stellen. Ich klammere mich an sie und halte mich so dicht wie möglich an der Felswand, um möglichst viel Raum zwischen den jäh abfallenden Wegesrand und mich zu bringen. Vater berührt das Stahlseil nur im Vorbeigehen und marschiert stramm voraus. Müsste ich, rund 30 Jahre jünger, nicht den Schritt vorgeben? "Na, geht dir die Puste aus?", kommt es schmunzelnd von vorne. "Nee, nee." Ich versuche, es entspannt klingen zu lassen. "Aber warm ist mir schon." Schließlich wandern wir gerade auf der Sonnenseite des Tals. Er lenkt ein. "Du trägst ja auch den Rucksack mit dem Proviant." Zwar bezweifle, ich, dass zwei Liter Wasser und ein paar Brote und Äpfel mir den Schweiß auf die Stirn treiben, sage aber lieber nichts mehr. Ich gelte als eher sportliches Mitglied der Familie, das soll ruhig so bleiben.
Leise öffne ich die Lüftungsreißverschlüsse an den Ärmeln meiner Jacke. Sollte nicht bald das Räuberschlössle kommen? Endlich erreichen wir den Felsabsatz, auf dem man als schwindelfreie Natur ein Picknick 80 Meter über der Schlucht halten kann. Das erste Mal an diesem Tag übertreffe ich Vater und setze mich forsch mit meinen Broten und Äpfeln nur einen knappen Meter entfernt vom Abgrund auf den Fels. Nach dieser Stärkung energiegeladen, kann ich auf den letzten Kilometern noch einmal gut mithalten. Der Weg wird jetzt breiter und umrundet einen Taleinschnitt, der Blick wird wieder weit und reicht über Felder.
Vater ist, nach insgesamt drei Stunden, am Ende des "Spaziergangs", wie er es nennt, sehr zufrieden: "Nee, das war wirklich schön. So viel Abwechslung, eine sehr schöne Strecke." Ich möchte lebhaft beipflichten, nicke aber nur matt und murmle etwas von "wenig Schlaf gehabt". Vater grinst. "Am besten, wir gehen heute noch die vierzehn Kilometer zur Wutachmühle", schlägt er vor, "dann kannst du morgen in aller Ruhe ausschlafen." Ich glaube, ich sollte vorsichtiger mit meinen Vorschlägen werden.
Reiseinfos für Wutachschlucht-Wanderer:
Der Weg durch die Wutachschlucht führt Wanderer in eine Welt aus hoch aufragenden Felsen und verwunschenen Wäldern. Das stete Auf und Ab fordert mitunter Trittsicherheit und Schwindelfreiheit.
Lage: Die Wutachschlucht liegt zwischen Titisee-Neustadt und Donaueschingen im Südschwarzwald. Das Tal erstreckt sich über knapp 30 Kilometer, bis es sich ab der Wutachmühle öffnet und eine sanfte Mulde bildet.
Charakter: Die Wutachschlucht ist so steil,dass man nur an wenigen Stellen Zugang zu ihr bekommt. Der meist gut ausgebaute Pfad fällt stellenweise der schnell voranschreitenden Erosion zum Opfer und macht Auslüge ins Unterholz notwendig
Beste Zeit: Problematisch bei Schnee und Eis, ideal von April bis Oktober.
Anreise: Mit der Bahn über Tuttlingen und Titisee-Neustadt oder über Donaueschingen nach Bonndorf (www.bahn.de). Von dort mit dem Bus zum jeweiligen Ausgangspunkt. Mit dem Auto von Freiburg auf der B 31 nach Titisee-Neustadt, auf der B 500 nach Feldberg, dann auf die B 315 bis Bonndorf. A 81 über Villingen-Schwenningen, dann A 864 bis Donaueschingen, dann auf der B 27 südlich bis zur B 31 Richtung Döggingen, davor auf die L 171 bis Bonndorf.
Information: Schwarzwald Tourismus & Touristinformation Bonndorf – viele aktuelle Tipps auch unter www.wutachschlucht.de oder www.hochschwarzwald.de
Bücher und Karten: Freizeitkarte 509 Waldshut – Schluchsee Tiengen, Naturpark Südschwarzwald 4, 1 : 50 000, 7 Euro; Rother Wanderführer Schwarzwald Süd, Bernhard Pollmann, Bergverlag Rother, 11,90 Euro.