Einsamkeit! Und das in dem wohl meistbesuchten Nationalpark Norwegens: Jotunheimen. Reich der Riesen wird das 1140 Quadratkilometer große Gebirge auch genannt, beheimatet es doch die höchsten Berge des Landes: den 2469 Meter hohen Galdhoppigen und den Glittertind. Insgesamt ragen über 250 Gipfel weiter als 1900 Meter in den Himmel, die Waldgrenze ist die höchste in ganz Nordeuropa. Als die Alpen Skandinaviens wird die bereits im 19. Jahrhundert touristisch erschlossene Region auch bezeichnet: Allein über den weltbekannten Besseggengrat – keine neun Kilometer nördlich von uns – strömen jedes Jahr mehr als 50.000 Menschen. Weil die Wandersaison hier nur von Mitte Juni bis Mitte September reicht, macht das rund 17.000 Wanderer pro Monat, viele tausend pro Woche, hunderte jeden Tag. Und wir? Stehen nur eine Bergkette daneben ganz allein in dystopischer Landschaft und suchen den Weg, den es nicht gibt,weil hier offensichtlich keiner hin will. Dabei gehört das Leirungsdalen, das uns zu dieser bizarren Moosebene hinaufgeführt hat, zu den schönsten Tälern Jotunheimens: Bedeckt von herbstlich-bunten Zwergsträuchern, Blaubeerkraut und autogroßen Felsblöcken, verläuft es mitsamt einem türkisfarbenen Gletscherfluss sanft zwischen steilen Bergriesen herab. Grasmatten direkt am Ufer des Leirungsdalen laden zum Zelten, Gumpen und Sandbänke zum Baden ein. "Kennt eben keiner", sagt Katleen schulterzuckend, als vor uns plötzlich Schatten auftauchen und schnell näher kommen.
Die stillen Täler Jotunheimens
Eilig leine ich Perla an, die bereits ihre Ohren aufgeklappt und die Nase in den Wind gereckt hat. Eine Herde Rentiere poltert im großen Bogen vorbei, die Geweihe stolz erhoben. Einige hundert wilde Tiere sollen auf den Hochflächen Jotunheims leben. "Da kommt es doch auf eines nicht an", denkt wohl Perla, die laut fiepend auf den Hinterläufen steht und im Jagdfieber den polternden Huftieren hinterherblickt. Immerhin: Ganz alleine sind wir also nicht. Dabei war es ja so geplant: Nach zwei Mehrtagestouren über die gut besuchten Hauptschlagadern des Nationalparks und den Besseggengrat wollen wir diesmal die stillen Täler Jotunheimens erkunden. Das Leirungsdalen entpuppt sich schon mal als Hauptgewinn. Dabei liegt es nur zwei Gehstunden von dem Wanderparkplatz an der Ostgrenze des Nationalparks Jotunheimen entfernt. Von dort wollen wir im großen Bogen einmal um den Gjendesee wandern: erst nach Westen, von dort in nördliche Richtung und am Schluss unterhalb des Besseggengrats zurück. Sechs Tage haben wir eingeplant, die komplette Verpflegung, Kocher, Zelt & Co im Rucksack.
70 Kilometer Trekkingrunde am Gjendesee
Zwar misst unser Rundkurs nur 70 Kilometer, doch wollen wir uns Zeit lassen, Blaubeeren pflücken, ausschlafen und in malerischen Bergseen baden. Das Wetter könnte kaum besser sein. Nach der nassen Currymoos-Hochfläche und einem verwegen steilen Abstieg gehen wir bald zur Torfinnsbu herab. Malerisch leuchtet die Hütte im rötlichen Abendlicht. "Da unten ist doch einer", ruft Katleen, "da, der gelbe Fleck!" Endlich, ein Mensch. Doch was macht er da? Steht schon seit Minuten neben seinem Rucksack und guckt zu uns rauf.
"Habt ihr einen Schlüssel?", begrüßt uns der gelbe Fleck eine Viertelstunde später. Schlüssel? Nein,wofür denn? "Ist abgeschlossen", sagt er konsterniert und rüttelt an der Holztür. Die Torfinnsbu zählt zu den wenigen unbewarteten Hütten Jotunheimens. Mitglieder im Wanderverband DNT können sich einen Schlüssel besorgen und haben dann mit Glück die Hütte für sich allein. In der Karte noch als private Selbstversorgerhütte markiert, gehört sie nun dem DNT.
Zum Glück hat Martin, wie sich der gelbe Fleck vorstellt, ein Zelt dabei. Während er es vor der Hütte aufbaut, folgen wir noch eine Stunde dem Uferpfad durch widerspenstige Weidenbüsche und bauen unser Lager etwas erhöht am Eingang zum Langedal auf. Aus dem Zelt guckend genießen wir mit einem dampfenden Tee den Ausblick über den See, die vielen Berge im Dämmerlicht und die ersten Sterne. An der Torfinnsbu flackert ein Lagerfeuer. Nach einer Stunde Aufstieg fehlt anderntags plötzlich Perla. Wir bleiben stehen, blicken zurück auf unseren Zeltplatz, die Hänge und das Tal hinauf: kein Hund in Sicht."Da rennt sie!", ruft Katleen – schwanzwedelnd flitzt Perla über das weiche, sonnenbeschienene Gras, hält hier und dort inne, schnuppert und rennt weiter. Lemminge! Sie jagt Lemminge. Meist erfolglos, denn die braun gefleckten Nager gehören zur Gattung der Wühlmäuse und können sich in viele schützende Erdlöcher flüchten.
Die kältegewohnten Tiere hat das warme Sonnenlicht ins Freie gelockt – und offenbar übermütig werden lassen: Auf dem Weiterweg zum Galdeberget-Pass (1695 m) stellen sich immer wieder einige besonders kühne Exemplare mitten auf den Pfad und krakeelen.Als ich eines davon fotografiere,springt es hoch und beißt mir in den Finger, ein anderes hat Perla in die Lefze gebissen. Erst als wir, zum Teil mit Hilfe der Hände, den Pass erklimmen, hat das Theater ein Ende. Oben bietet sich eine fantastische Aussicht – auf ein kilometerweites Geröllmeer. Fast zwei Stunden lang balancieren wir über die manchmal wackligen Steine, tiefe Spalten und kühlschrankgroße Felsblöcke. Wieder sehen wir den ganzen Tag lang keinen Menschen. An der Gjendebu, die wir am Mittag des vierten Tages erreichen, herrscht dagegen Volksfeststimmung. Neben den mit der Gjendeseefähre angereisten Ausflüglern, die ziellos um die 1871 erbaute, älteste DNT- Hütte schlendern und auf den Bänken davor in der Sonne Kaffee schlürfen, bringt das Boot vor allem Wanderer, die in zwei Tagen über Bukkelæ- und Besseggengrat zurück ans Ostufer wandern.
Wir schlagen dagegen einen kleinen Nordbogen, bevor es anderntags in Ostrichtung auf die Memurutunga-Hochfläche geht und kurz darauf ins kaum besuchte Memurudalen. Am Rande eines schreiend-bunten Hochflorteppichs aus Heide- und Blaubeerkraut stellen wir unser Zelt an der rauschenden Muru auf – wieder ganz allein. Als der Kocher faucht und Katleen eine Beutelfüllung gefriergetrocknetes "Gemüse-Jambalaya" in den sprudelnden Topf kippt, versuche ich den fünften Abend in Folge einen Wetterbericht aufs Handy zu laden.
Wieder vergeblich. Hoffentlich regnet es morgen nicht! Doch die Sorge stellt sich als unbegründet heraus. Unter gleißender Sonne schlängelt sich der kieferngesäumte Uferpfad auf einem schmalen Vegetationsband zwischen See und der fast 800 Meter hohen Besseggen-Steilwand entlang. Begleitet vom sanften Plätschern der Brandung geht es durch hüfthohe Farne,violett blühendes Knabenkraut und über knirschende Kiesstrände in insgesamt fünf Stunden nach Gjendesheim. Hier zieht sich eine lange Menschenschlange den breiten Weg vom Besseggengrat zum übervollen Parkplatz.Auf dem ganzen Uferweg haben wir hingegen ganze vier Wanderer überholt, zwei kamen uns entgegen – und das an einem sonnigen Sonntag. Jotunheimen geht also auch einsam.
Alle Infos zum Wanderurlaub im Jotunheimen Nationalpark
Beste Jahreszeit
Prinzipiell von Mitte Juni bis Anfang Oktober. Im August nehmen die Besucherzahlen deutlich ab, außerdem färbt sich dann die Landschaft langsam gelb-orange-rot, die Luft wird klarer und das Wetter stabiler. Am schönsten ist es zwischen Ende August und Ende September.
Hinkommen
Am schnellsten und einfachsten mit dem Flugzeug nach Oslo oder Trondheim und von dort mit dem Nor-Way-Expressbus (nor-way.no) direkt nach Gjendesheim. Alternativ kann man an beiden Flughäfen Mietwagen leihen (billiger-mietwagen.de, ab 170 Euro/Woche), muss dann aber in Gjendesheim saftige Parkgebühren berappen (ca. 13 Euro/Tag).
Orientieren
Eine gute Topokarte reicht aus (Turkart 2503, 1:50 000, Jotunheimen Aust, 27 Euro), da die Strecke beschildert und fast durchgängig markiert ist. Nur im oberen Leirungsdalen kann es im Nebel knifflig werden. Dann helfen Kompass oder GPS.
Fährverbindung
Die Fähren auf den beiden Seen Gjende und Bygdin erlauben eine flexible Routenplanung und fahren von Anfang (Gjende) bzw. Ende Juni (Bygdin) bis Ende September ein bis drei Mal täglich.
Mit Hund
Für die Einreise reicht heute ein Heimtierausweis mit lückenlosem Tollwut-Impfnachweis und einem Stempel vom Tierarzt, der bestätigt, dass der Hund frühestens 24 Stunden, spätestens 120 Stunden vor dem Grenzübertritt entwurmt wurde. Er muss natürlich gechippt sein. Achtung: Im Nationalpark herrscht vom 1.4. bis 1.10. Leinenzwang. Ein Erste-Hilfe- Set (mit Pfotenschuhen!) darf nicht fehlen, ebenso wenig ein gutes Geschirr oder Packtaschen, um den Hund bei Watstellen oder auf den oft wackeligen Metallgitter-Brücken sichern zu können (Tipp: "Webmaster Harness" oder "Single Track Pack" von Ruffwear).
Wo kann ich übernachten ?
Außer im eigenen Zelt (Jedermannsrecht) geht das u.a. in diesen Hütten:
- Gjendesheim: Die mit dem Auto erreichbare Hütte liegt direkt am See Gjende und bietet sich allen an, die am nächsten Tag zum Besseggengrat starten. Im Sommer öffnet sie von Mitte Juni bis Anfang Oktober, Übernachtungspreise variieren von ca. 12 Euro (Matratzenlager, DNT-Mitglied) bis 45 Euro (1- bis 3-Bettzimmer, Nichtmitglied) ohne Verpflegung. Unbedingt reservieren! gjendesheim.dnt.no
- Torfinnsbu: Die Selbstversorgerhütte liegt am Bygdinsee und lässt sich nur von Mitgliedern des DNT öffnen, wenn sie sich vorher einen Schlüssel haben schicken lassen. Steht die Hütte offen, darf man als Nichtmitglied übernachten. Der Preis beträgt 365 NOK, die nur in bar oder per Kreditkarte bezahlt werden können. Die DNT-Mitgliedschaft kostet ca. 70 Euro/Jahr. Anmeldung über english.dnt.no/join
- Gjendebu: Die älteste Hütte des DNT wurde mehrfach modernisiert und liegt am Westufer des Gjende. Sie bietet 119 Gästen und einer begrenzten Zahl Hunden Unterkunft. Geöffnet von Mitte Juni bis Mitte September, sollte man sie unbedingt reservieren (ab ca. 20 Euro/Nacht): dnt.no/hytter/betjente/gjendebu/english
- Memuruu: Am Fuße des Besseggen und Ufer des Gjende gelegen, können hier von Mitte Juni bis Mitte September bis zu 150 Gäste nächtigen (ab ca. 20 Euro/ Nacht). Auch hier empfiehlt sich eine Reservierung: memurubu.no
Insider Tipps von outdoor-Redakteur Boris Gnielka
Bei gutem Wetter
Wer noch einen Tag Zeit hat, fährt die Mautstraße zur Glitterheimen-Hütte, leiht sich dort einen Schlitten und steigt auf den zweithöchten Berg Norwegens, den Glittertind. Bei guter Schneelage kann man vom Gipfel bis kurz vor die Hütte hinunterschlittern.
Bei miesem Wetter
Wenn‘s auf dem Fjell kalt und nass wird, lohnt die zirka dreistündige Fahrt nach Andålsnes. Am Fjord gelegen, herrscht dort viel milderes Klima. Hauptattraktion ist das Alpinmuseum mit Café und ca. 21 Meter hoher Kletterhalle.
Über den Besseggen
Der Weg von Gjendesheim zur Memurubu bietet einen spektakulären Tiefblick auf den Gjende. Sieben Stunden Gehzeit sollte man für die 16 Kilometer und je 1200 Auf- und Abstiegsmeter rechnen. Die wenigen Kraxelpassagen meistern auch trittsichere Kinder und Hunde gut.
Für Hüttenfreunde
Leichtgewichts- und Hüttenfreunde können die Runde auch in vier Tagen schaffen, brauchen dafür aber etwas Kondition und für die Torfinnsbu einen Schlüssel.
Zeltküche
In den Hütten entlang der Tour gibt es meist nur Naschwerk und Obst, weshalb der Proviant für die komplette Tour reichen sollte.
Trinkwasser
Das Wasser aus Flüssen und größeren Seen gilt als unbedenklich. Ein Wasserfilter ist daher überflüssig.
Pflanzen futtern
Blaubeeren wachsen ab Mitte August wie Unkraut, auch Multbeeren findet man gelegentlich – beide bereichern das Müsli.
Tiere gucken
Neben Rentieren lassen sich mit einem guten Fernglas Raben, einige Greifvogelarten und mit viel Glück auch Rotfüchse beobachten.
Ausrüstung
Trekking in Skandinavien – Tipps dazu im Podcast
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Weitere outdoor-Traumziele im Video: