Martin Hülle ist kein Sonderling oder Eigenbrötler. Der Familienvater liebt Gesellschaft, gibt Foto-Workshops und tauscht sich gerne mit anderen aus. Doch alle ein, zwei Jahre packt es ihn. Dann muss er einfach seinen großen Rucksack vollstopfen und durch die skandinavische Wildnis ziehen – ohne Begleitung und am liebsten in einer Region, in der die Chancen gut stehen, wochenlang niemandem zu begegnen.
Gesellschaftsverzicht auf Zeit
Menschen wie Martin gibt es viele: Wanderer, die gerne allein auf Tour gehen. Und das nicht nur einen Tag lang, sondern mehrere Wochen am Stück. Doch warum? Was treibt jemanden an, so lange auf Gesellschaft zu verzichten? Bei Martin war es ganz einfach ein fehlender Wanderpartner: "Auf meiner ersten Lapplandtour wollte niemand mit, also zog ich ohne Begleitung los." Allerdings fiel es ihm anfangs nicht leicht, mit der ungewohnten Stille umzugehen und sich mit niemandem unterhalten zu können. Ein Phänomen, das die meisten Solotrekker kennen und das, wie der Neurobiologe Bernd Hufnagl erklärt, in unserer Natur liegt: "Als soziales Säugetier ist der Mensch an Gemeinschaft gewöhnt. Es gibt sogar Netzwerke in unserem Gehirn, die uns zur Kooperation zwingen. Verlieren wir evolutionsbiologisch gesprochen die Herde aus dem Blick, produzieren wir bestimmte Hormone nicht mehr." Vor allem Oxytocin, ein beruhigendes, angstlösendes Hormon: Es bewirkt, dass wir uns in Gemeinschaft wohlfühlen.
Diese Geborgenheit fehlt auf Solotour. Hier ist man ganz auf sich gestellt, muss jede Entscheidung selbst treffen und hat niemanden, der einen bestätigt, warnt oder bremst. Umso wichtiger ist eine gründliche Vorbereitung. Dazu gehört, sicher mit Karte und Kompass umgehen zu können – falls das Handy mal streikt. Und die Route so zu planen, dass sie nicht die eigenen Grenzen übersteigt, schließlich gibt es keinen, der im Notfall helfen könnte. Schon dieser Gedanke bereitet vielen Wanderer Unbehagen. "Wie gut wir allein zurechtkommen, hängt davon ab, welche frühkindlichen Erfahrungen wir gesammelt haben. Es liegt aber auch an den Genen – Erfahrungen unserer Eltern sowie unserer Großeltern", erklärt Bernd Hufnagl.
Bei Martin trat das Gefühl der Einsamkeit schon nach wenigen Tagen in den Hintergrund. "Die Faszination der skandinavischen Landschaft und das Gefühl von grenzenloser Freiheit überwog schnell." In den folgenden Jahren brach er immer wieder allein auf, selbst im Winter. Dabei lernte er nicht nur, mit den Herausforderungen der Wildnis fertig zu werden, sondern auch, mit der Einsamkeit klarzukommen. Sie gefiel ihm sogar immer besser, je öfter und länger er auf Tour war. "Ich zählte mich bald zu jenen Leuten, denen zwei Wanderer in einem Tal einer zu viel sind. Es tut mir einfach unglaublich gut, eine Zeit lang nur mit mir allein die Natur zu entdecken.
Das Solowandern schärft die Sinne: Man nimmt alles um sich herum viel intensiver, deutlicher und klarer wahr", sagt der Fotograf, der heute solche Unternehmungen erst dann richtig genießt, wenn sie ihn körperlich fordern und durch besonders abgeschiedene Regionen führen. "Eine anspruchsvolle Tour ohne Begleitung zu meistern bringt schon ein hohes Maß an Befriedigung mit sich", so Martin.
Interview mit Solotrekker Martin Hülle
Martin Hülle: Tja, bereits meine allerersten Trekkingtouren, zuerst im heimischen Sauerland und anschließend in schwedisch Lappland, habe ich allein unternommen. Allerdings aus einer Not heraus, da ich niemanden hatte, der mitgewollt hätte. Also zog ich einfach alleine los. Dabei fiel es mir anfangs manchmal noch schwer, das Alleinsein in der nordischen Einsamkeit zu ertragen, aber die Faszination der Landschaft und der Freiheit, über Berge und durch Täler zu schreiten, überwog. In den folgenden Jahren brach ich immer wieder zu Solotouren auf. Bald auch im Winter. So lernte ich schnell, allein in der Wildnis klarzukommen und bald machte mir die zu Beginn meiner Karriere oft noch bedrückende Einsamkeit nichts mehr aus. So langsam gehörte ich zu jenen Menschen, denen zwei Wanderer in einem Tal bereits einer zu viel sind.
Die Faszination des Solotrekkings kommt in meinen Augen dann so richtig zum tragen, wenn die Touren in besonders abgeschiedene Regionen führen, wo die Wahrscheinlichkeit hoch ist, eventuell tagelang keine andere Menschenseele zu treffen, oder die Unternehmungen "extremeren" Charakter annehmen, wie ausgedehnte Gletscher- oder Wintertouren. Allein fern der Zivilisation wird die Intensität des Unterwegsseins so noch höher als mit einem Wanderpartner oder in einer Gruppe. Führen die Touren an die körperlichen oder emotionalen Grenzen, wird alles nochmals umso eindrücklicher.
Dabei möchte ich auch nicht verleugnen, dass es eine große Befriedigung mit sich bringt, eine anspruchsvolle Tour ganz allein zu meistern. So habe ich zum Beispiel einmal mit einem Freund den Jostedalsbreen in Norwegen überquert, den größten Gletscher auf dem europäischen Festland. Richtig zufrieden war ich aber erst, als mir das ein paar Jahre später auch allein geglückt ist. Gleichzeitig war diese Solotour aber wiederum ein Training für eine noch schwierigere Alleinunternehmung, die ich im Visier hatte. Nämlich eine Überquerung des Vatnajökulls auf Island. Das allein zu schaffen, war ein großes Ziel von mir. Dabei geht es aber nicht darum, mir oder anderen etwas zu beweisen. Nach dem Motto: Seht her, das habe ich ganz allein hinbekommen! Nein, es ist wohl eher die Freude daran, eine so intensive und fordernde Tour ganz für sich allein zu haben.
Am Anfang habe ich mir gar keine großen Gedanken gemacht, welche Probleme auftreten könnten. Aber neben der grundsätzlichen Herausforderung, dass man mit dem Alleinsein gut zurechtkommen muss, was einigen sicherlich besser gelingt als anderen, ist der fehlende Austausch das größte Problem bzw. die größte Schwierigkeit. Entscheidungen können nicht diskutiert, Hilfe nicht geleistet werden. Allein ist man für alles selbst verantwortlich. Das ist Freiheit und Last in einem.
In einer Gruppe kann man auch einfach mal hinterherlaufen, andere entscheiden lassen, welchen Weg man nehmen soll oder ob das Wetter für einen Aufbruch okay ist. Solo hingegen kann man sich nie verstecken. Aber diese Eigenverantwortung ist eben auch einer der großen Reize von Solotouren. Und da auch niemand zuschaut, ist es oftmals primär eine besonders intensive Auseinandersetzung mit sich selbst. Was kann ich? Was traue ich mir zu? Wo bin ich lieber vorsichtig? Jede Entscheidung macht man allein mit sich selber aus. Das ist intensiv, kann einen an die eigenen Grenzen führen, aber auch darüber hinaus.
Grundsätzlich bin ich kein ängstlicher Mensch, was Solotouren in wilden Gegenden betrifft. Ich habe keine große Angst, dass mir etwas zustoßen könnte. Vielleicht kommt es daher, dass ich sozusagen mit Solounternehmungen groß geworden bin und nicht irgendwann damit angefangen habe. Vielleicht hatte ich bisher aber auch einfach nur Glück. Dabei gab es durchaus schon heikle Momente. Im isländischen Hochland wäre mir beinahe mal mein Zelt davongeflogen, weil ich es im weichen Boden zu schlecht verankert hatte. Ein Schreckmoment. Zum Glück konnte ich es retten, war danach aber durchaus verängstigt. Seitdem achte ich immer penibel darauf, dass mein Zelt solide verankert ist und lege lieber einen Gesteinsbrocken mehr auf einen Hering als einen zu wenig.
Ein Bein habe ich mir glücklicherweise noch nie gebrochen, aber im schwedischen Sarek-Nationalpark durchaus einmal einen Ermüdungsbruch im rechten Fuß zugezogen. Dass es sich um einen Bruch handelte, ahnte ich damals vor Ort nicht. Der Fuß war geschwollen, ich konnte die Zehen nicht mehr richtig bewegen und mancher Schritt tat höllisch weh. Trotzdem lief ich damit noch 50 Kilometer bis zum Ziel. Was anderes blieb mir auch gar nicht übrig. Es geschah noch zu einer Zeit, wo es keine Mobiltelefone gab (mit denen man sicherlich auch keinen Empfang in der Wildnis gehabt hätte).
Heutzutage sieht das anders aus. Bei meiner letzten schwierigeren Solotour, einer Wanderung durch das Johan Dahl Land im Süden Grönlands, hatte ich einen SPOT-Notsender dabei, mit dem ich im Notfall per Satellit hätte Hilfe herbeirufen können. Wer abseits vielbegangener Wege alleine loszieht, dem würde ich auf jeden Fall zur Mitnahme eines derartigen Geräts oder eines vergleichbaren Garmin inReach raten. Jetzt, wo es diese technischen Möglichkeiten gibt, macht es keinen Sinn, darauf zu verzichten. Aber sie sollten auf keinen Fall dazu verleiten, Touren zu unternehmen, die eigentlich über dem eigenen Können liegen. Sich retten zu lassen, falls etwas schiefläuft, sollte einer unverschuldeten Extremsituation vorbehalten sein und z. B. nicht schlampiger Planung oder Überheblichkeit. Daher sollte an erster Stelle immer eine Tourstrategie stehen, die vorsieht, dass man allen möglichen Herausforderungen gewachsen ist. Vor allem bei einer Solotour, bei der man eben für alles selbst verantwortlich ist. Das erfordert, die eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten gut einschätzen zu können.
Eigentlich nicht, denn ich komme mit mir alleine grundsätzlich gut klar und ziehe aus Solotouren eher positive als negative Energie. Als ich vor wenigen Jahren allerdings den Cape Wrath Trail in Schottland lief, bekam ich frühzeitig Probleme mit meinen Schuhen und dem Rucksack. Die meiste Zeit taten mir die Füße und die Oberschenkel weh und da keimten durchaus Gedanken an einen Abbruch der Tour in mir. Aber ich schaffte es, mich weiter zu motivieren und die 370 km lange Strecke hinter mich zu bringen. Mein Ziel erreichen zu wollen, war stärker als die aufkommenden Probleme. Dennoch wäre mir die Situation mit einem Wanderpartner vielleicht leichter gefallen, wenn man sich gegenseitig antreiben kann oder sich einfach auch mal über die "Schwächen und Unzulänglichkeiten" des anderen lustig macht und stressige Situationen so entspannt.
Erst einmal genieße ich es. Ich lebe in meinem eigenen Kosmos und sauge alle Eindrücke nur für mich auf. Allein unterwegs zu sein, ist immer eine faszinierende Reise nach innen. Zudem kann man allein tun und lassen, was man möchte. Und nicht zuletzt sind alle Höhen und Tiefen unmittelbarer und die Sinne geschärfter. Ich mag es auch sehr, mit Freunden oder meiner Frau und Tochter auf Tour zu gehen. Aber immer wieder mal muss ich auch alleine losziehen. Egal ob anspruchsvolles Abenteuer, bei dem ich tagelang niemandem begegne, oder vergleichsweise harmlose Tour auf häufiger begangenen Pfaden. Es tut mir einfach gut, eine Zeit lang nur mit mir allein die Natur zu entdecken.